Der Arzt richtete sich zur vollen Größe auf, schaute den Jungen an und erklärte ihm den Sachverhalt: >>Lasst eure Mutter noch ein wenig mit eurem Vater und dem kleinen Jungen, der nicht leben durfte, alleine!<<
Piotr und Edek umarmten ihre Schwester Anna, die das ja alles miterlebte und alle drei weinten nun um ihren totgeborenen Bruder.
Bis die Hebamme es nicht mehr aushielt, aufstand und mit fester Stimme sagte: >>Mir ist schlecht! Die Ärmste! Selten habe ich eine Frau bei einer Entbindung so viel leiden sehen. Bitte gebt mir einen starken Tropfen, damit ich den bitteren Geschmack in meinem Mund wegspülen kann.<< Piotr erhob sich, ging zum Schrank und nahm die Wodkaflasche mit dem guten, weichen polnischen Wodka heraus, schaute sie an, nahm zwei Gläschen vom Regal, füllte je eines für den Arzt und die Hebamme ein und sagte: >>Zu feiern haben wir ja keinen neuen Bruder. Eigentlich. Aber einen Namen sollte er trotzdem erhalten. Und außerdem, danke Herr Doktor und allen hier Anwesenden, dass ihr das Leben unserer Mutter retten konntet! Denn wenn ich das richtig verstand, war auch ihr Leben in Gefahr.<<
Arzt und Hebamme nickten schweigend, mit nassen Wangen von den vielen vergossenen Tränen, nahmen das angebotene Glas und tranken langsam und mit Bedacht die alkoholische Flüssigkeit. >>Es muss nicht immer ein Festtag sein, an dem sich so ein warmer Schluck bezahlt macht. Ich danke dir Piotr, und jetzt muss ich gehen. Morgen komme ich nach der Kranken schauen. Ihr müsst bestimmen, wie der Körper des Kindes bestattet wird. Gelebt hat er ja eigentlich nicht.
Also dürfte der Priester Schwierigkeiten machen, ihn auf dem Friedhof in eurem Familiengrab beizusetzen. Doch ehrlich gesagt, schaut euch eure Mutter an. Für sie hatte das Kind gelebt. Es war acht Monate in ihrem Bauch. Für sie hatte es gelebt. Sollte es Schwierigkeiten geben, sagt es mir und ich erkläre dies dem Priester; - auf meine Weise!<<
Betroffen schauten sie sich an, die dort am Tisch saßen und standen und wussten im Moment keinen Satz hervorzubringen. >>Erst einmal kommt unser Brüderchen in die Wiege, die für ihn bereit gestellt war, sobald es Mutter zulässt.<< Sagte Anna. Die Hebamme warf ein, dass es nicht gut wäre, ein totes Kind so lange im Hause zu haben.
>> Er ist unser Bruder und bleibt hier, so lange dies unsere Eltern wünschen.<< Entschied nun Edek ziemlich brüsk. >>Ich meine ja nur, für die Psyche der Mutter ist es nicht gut, Edek. Verstehe mich bitte nicht falsch. Wenn euer Vater heraus kommt, werde ich nach ihr schauen. Auch was die Blutungen machen, muss ich kontrollieren.
Aber zuerst müsst ihr natürlich zu ihr gehen und sie trösten.<< Ein verständnisvolles Nicken und Starren zur Zimmertür, die zum Schlafzimmer der Eltern führte, folgte ihrer Aufforderung. Angespannt warteten sie darauf, dass sie sich öffnen sollte.
Warten mussten sie noch eine ganze Weile. Von drinnen hörte man seit geraumer Weile zweistimmiges Weinen. Władek lag mit dem Kopf auf der Brust seiner weinenden Frau, die er mit einem Arm umschlungen hielt und diese ihrerseits im Arm das leblose Bündel festhielt. Beide konnten ihr Unglück nicht fassen, dass sie dieses Kind nun betrauern mussten, anstatt ihm ins Leben zu helfen. Warum nur, warum? Eine immer wieder stumm gestellte Frage stand im Raum. Beide hatten sich nichts vorzuwerfen. Alles war wie bei den anderen Schwangerschaften auch. Und doch, etwas musste anders gewesen sein?! Aber was war es nur, was diesem unschuldigen Kind das Leben schon im Mutterleib nahm?
Als die Dämmerung einsetzte drückte Władysław seiner Frau und dem toten Jüngelchen einen langen Kuss auf die Stirn, verließ den Schlafraum und trat in die Küche zu den anderen. Alle starrten ihn an. Der Doktor wartete nicht und war gegangen. Auch ging er schon früher, um die Trauernden nicht zu stören. Die Hebamme erklärte nun dem bleichen verstörten Vater, warum es zum Tode seines Kindes kam. Dem einzigen Kind, was sie in all den Jahren verloren. Es sollte das letzte Kind sein, welches Rozalia nach so vielen Jahren Pause vom Kinderkriegen gebären wollte. So hatten sie es sich gewünscht. Und sie wollten ihn Czesław nennen.
Denn für sie war es gewiss, dass es ein Junge werden würde, erklärte er stolz. Er umarmte schweigend und dankbar seine Kinder in der Küche, dankte der Hebamme und ging in Richtung Stall, um alleine so zu weinen, wie nur ein Mann weinen kann.
Die Tage, die folgten, waren wirklich die schwersten, die diese Familie zu ertragen hatte. So glaubten sie damals. Nach vielen Gesprächen willigte der Priester dann doch ein, Czesław im Familiengrab beizusetzen. Eine kleine Trauerfeier im Kreise der doch zahlreichen Familie gab es nach der Messe für das totgeborene Kind. Was zuvor auf dem Friedhof von Leszkowice, am Dorfanfang gelegen, begraben wurde.
Fast das ganze Dorf zog traurig in einer Prozession einem kleinen weißen Sarg hinterher.
Die Familie zog sich anschließend ins Haus von Władeks Eltern zurück, um weiteren neugierigen und schmerzhaften Fragen zu entgehen. Man saß zusammen bei Tee und trockenem Kuchen, bis jeder für sich sein wollte und das große Haus verließ, um nach Hause zu gehen.
Die Arbeit hatte sie schnell wieder in den Alltag eingespannt, denn der kommende Winter würde kein Erbarmen mit Trauernden zeigen, wenn nicht genügend Holz gehackt, keine Pilze gesucht und eingekocht und so vieles vorbereitet wurde. Als das Weihnachtsfest immer näher kam, gesellten sich zu den eh schon starken Frösten, starke Schneeverwehungen.
Tagelang konnten die Männer nicht in der Kirche arbeiten, weil sie selbst zu Hause genug damit zu tun hatten, die Räumlichkeiten zu wärmen und andere Arbeiten zu verrichten, die üblicherweise im Winter getan wurden. Dazu gehörten für die Jüngeren; - das Lernen, Malen und Lesen, genauso wie Stickereien anzufertigen.
Bei Rozalia und Władek schien die Zeit eingefroren zu sein. Sie redeten nicht mehr viel miteinander. Die Zeit verbrachten sie mit vielen Dingen um das tägliche Leben und mit wenigen Worten. Die Trauer um ihr verlorenes Kind ließ sie verstummen. Sie scherzten nicht mehr miteinander und fanden keinen Weg mehr zu ihrem üblichen leichten, in den Jahren stets neckenden, verliebten Umgang zueinander.
Als endlich die Arbeiten und Vorbereitungen zum Dekorieren der Kirche losgingen, trafen sich einige der Dorfbewohner und schmückten den Innenraum mit allerhand weihnachtlichem Schmuck aus wunderhübsch gebundenen Sträußen, die auch getrocknete Blüten enthielten. Es wurden zwei riesige Tannenbäume aus dem nahen Wald herbeigeholt und links und rechts neben den Altar aufgestellt. So viele Kerzen wurden gespendet, dass es zu hoffen war, die Kirche am Heiligen Abend hell erleuchten zu können, ohne dass elektrisches Licht eingesetzt werden musste.
Die harmonische Kerzenbeleuchtung wurde stets zu Beginn eines großen Gottesdienstes bevorzugt.
Einige Wochen vor Weihnachten zog der Geruch von frisch gebrühter Wurst durchs Dorf.
Wo es möglich war, wurde selbst geschlachtet und anschließend auch selbst die Wurst hergestellt. Von der guten Wurstbrühe wurden dann herzhafte Suppen gekocht, auf die alle in der Familie schon mit Heißhunger warteten. So war es auch in der Familie Lato.
Durch die mitgebrachten Schwiegerkinder vergrößerte sich die Familie um einige Personen. Man stellte neue Stühle um den Küchentisch, damit alle am Festtage um den großen Tisch versammelt sein konnten. Auch die Kinder, welche als Soldaten dienten, nahmen selbstverständlich mit ihren Bräuten am Festessen der Familie teil. Außerdem musste ein Platz mehr angeordnet werden. Ein freier Platz, der auch eingedeckt wurde und der traditionell am Heiligen Abend in Polen immer unbesetzt bleibt. Und zwar, für einen fremden Gast, den es zu ihnen verschlagen könnte und den man willkommen heißen würde.
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