Stattdessen verspürte er Schmerzen in der Schulter. Feuchte Wärme sickerte aus seiner Wunde, der Arm schmerzte, pochte. Nicht die freundlichen Blicke der Göttin begrüßten ihn, sondern er starrte in die verdutzten Augen einer hungrigen Wölfin, ihr Fell am Kopf verbrannt. Der Geruch von glimmenden Haaren stach in der Nase, wo er Weihrauch oder Parfüm erwartet hatte. Und keine ruhige Erleuchtung erfüllte seinen Geist, er konnte seine Todesangst immer noch riechen.
Eine zweite Feuerwolke umhüllte die Schnauze des Wolfes, der sich in seine Schulter verbissen hatte. Der Verstand der Raubtiere brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass aus dem Nichts beißende Flammen entstanden. Schmerzende, stinkende Wolken. Einen kurzen Moment rangen die Urangst der wilden Tiere vor Feuer und ihr Hunger miteinander. Dann floh das Rudel in den Wald.
Langsam entdeckte Meister Kahlm, dass er überlebt hatte. Zwar mit Blessuren, aber er war am Leben. Hinter einem Gebüsch erhob sich ein junger Mann in der Kleidung eines Kriegermönchs. Waffenlos, bis auf ein Messer an seinem Gürtel. Über seiner Schulter hing ein Beutel, ein Bücherbeutel, wie er erkannte.
"Mein Name ist Sheen“, begrüßte ihn der Mönch. "Gut, dass ich in der Nähe war."
"Ihr ward das? Wo kamen diese Feuerwolken her?"
"Ich beherrsche diese Kunst noch nicht lange. Seien wir froh, dass es funktioniert hat."
"Ihr hättet diese Teufelsbrut verbrennen sollen. Seht, was sie mit meiner Schulter gemacht haben." Ächzend versuchte der Händler, sich trotz seiner Verletzung zu erheben.
Der Mönch blieb ruhig. Vorsichtig zog er ihn am unverletzten Arm hoch. "Teufeln bin ich vor kurzem begegnet. Glaubt mir, die würden jetzt noch brennen. Das waren nur hungrige Tiere. Nach diesem Erlebnis wird die Wölfin die Nähe von Menschen meiden. Gleich wie groß ihr Hunger ist."
Zunächst versorgte Sheen die Wunden des Kaufmanns. Der Wolf hatte sein Opfer so geschüttelt, dass er die Schulter ausgekugelt hatte. Kleine Blessuren, sogar Brüche kamen in der einsamen Welt, in der der Novize bisher gelebt hatte, regelmäßig wieder vor. Daher verstand er sich darauf, eine solche Verletzung zu behandeln. Ein kurzer, wenn auch schmerzhafter Ruck, löste dieses Problem.
Die Versorgung der Bisswunden bereitete mehr Probleme. Abt Echzel betonte immer, wie wichtig, die Reinigung tiefer Wunden war. Ein Biss von einem wilden Tier musste sorgfältig gesäubert werden. Dazu verschwendete er, wie Meister Kahlm meinte, einen zu reichliche Menge seines Branntweins, den er in den Kisten mitführte. Nach der schmerzvollen Säuberung galt es die offenen Stellen sauber zu verbinden. Nach kurzem Überlegen griff Sheen in seinen Bücherbeutel und holte einen kleinen Tiegel hervor, den er aus dem Kloster gerettet hatte.
"Die Salbe hier schmiere ich vorsichtig auf deine Schulter. Es handelt sich um Bücherleim. Sie verklebt die Verletzungen und sorgt dafür, dass kein Dreck hineingelangt."
"Bücherleim. Bist du irre."
"Keine Sorge. Er wird bald fest und bildet eine dichte Kruste. Unter ihr wachsen deine Wunden zu. Am Ende fällt der Leim von selber ab. Wir haben Glück, dass die Bisse nicht bis zu den Knochen reichen."
"Und das hilft?"
"Wir machen das im Kloster immer so. Es brennt etwas. Später wird es jucken. Das ist ein gutes Zeichen. Es zeigt, dass es darunter heilt."
"Und wenn es nicht juckt?"
"Dann hat der Wolf gewonnen."
"Also gut. Was habe ich zu verlieren. Bücherleim. Noch nie gehört!"
Anschließend kümmerten sie sich um die Maultiere. Dann war es Zeit für das Abendessen.
Sheen genoss die Abwechslung. Keine Kaninchen, diesmal gab es einen herzhaften Eintopf. Er beschloss, Meister Kahlm die Geschichte seiner Flucht und der Ermordung seine Mitbrüder zu erzählen. Die Erlebnisse belasteten den jungen Mann. Es tat gut, sich jemandem anzuvertrauen.
"Lord Sagenbredt. Ich habe von ihm gehört“, meinte der Kaufmann. "Er ist ein Anhänger des Grafen Tyhr. Beim Volk heißt er Tyhr, der Schöne."
"Was ist das für ein Mensch?"
"Tyhr steht im Moment an dritter Stelle in der Thronfolge des Reichs. Davor sind da seine Vettern Hergo und Thanbert. Beide noch unverheiratet. Doch jeder männliche Nachkomme drückt ihn eine Stufe runter. Und da ist noch seine Schwester, die Ansprüche auf seinen Platz in der Grafschaft besitzt. Eigentlich soll ihr der Grafentitel gehören. Man sagt, er habe Lust, weiter nach oben zu klettern."
"Wenn ich nur wüsste, was es mit diesem Pergament auf sich hat. Meine Freunde mussten dafür sterben."
"Vermutlich werden wir es nie erfahren. Lasst uns schlafen. War ein langer Tag."
Für den Fall, dass die Wölfe zurückkehren würden, wachten beide abwechselnd in der Nacht. Aber ihre Ruhe blieb ungestört. Nach einem kurzen Frühstück, verteilte Meister Kahlm seine Kisten auf die Maultiere.
Einer der grauen Vierbeiner brauchte weniger tragen. "Das lahme Tier ist Cora. Sie geht schon lange mit mir. Die anderen Lasttiere werden einen Teil ihres Gepäcks übernehmen müssen. Ich fürchte, auch wir zwei Zweibeiner bleiben davon nicht verschont."
So brachen nach einer Weile fünf beladene Wesen auf. Es traf sich gut für Sheen, dass sein neuer Freund ebenfalls zur Fähre des Benjamin unterwegs war. Dieser Knotenpunkt bildete bereits so früh im Jahr das Ziel vieler Wanderer.
Als der Novize unter seiner Last einmal stöhnte, nahm ihn der Händler beiseite. Mit einem Seitenblick auf die immer noch lahmende Cora raunte er ihm zu. "Keine Sorge. Spätestens zum Mittag nehme ich dir etwas ab."
"Ich schaffe das schon. Du brauchst meinen Teil nicht zu übernehmen. Du bist verletzt."
Meister Kahlm zwinkerte seinem Freund zu. "Du irrst. Dann legen wir eine Rast ein. Laden ab und essen. Wenn es gilt, neu zu beladen, bekommt unsere lahme Freundin ein wenig mehr auf ihren Rücken."
"Aber das Maultier lahmt doch."
"Wenn sie sich bis zum Mittag schonen kann, wird es besser werden. Ich kenne die alte Cora. Sie ist schlau wie ein Hund."
"Was meinst du damit?"
"Sie beobachtet uns genau. Sie hat gelernt, wenn sie lahmt, lade ich ihr weniger auf. Lasse wir ihr das durchgehen, wird Cora die ganze Reise ein Bein nachziehen. Nach der Rast bekommt sie unauffällig ein bisschen mehr auf den Buckel. Am Nachmittag wieder was und morgen auch. Spätestens übermorgen hat sie die volle Ladung. Ohne, dass sie es merkt."
Sheen musste lachen. Und wirklich. Coras Verletzung besserte sich fast stündlich und nach der Mittagsrast bekam das Tier eine kleine Kiste zusätzlich aufgeladen.
Der Novize war nicht sicher, ob das Maultier das Spiel durchschaute. Händler und Lasttiere schienen ihre eigenen Marotten zu haben. Bald ertappte er sich dabei, seine neuen Begleiter zu mögen.
Am Abend gab ihm Meister Kahlm einen Rat. "Deine Verfolger werden uns bald einholen. Zieh deine Mönchskutte aus. Sie wird dich verraten. Du bekommst etwas von meinen Handelssachen. Eine passende Hose wird sich finden. Dazu noch eine warme Jacke, damit du nicht mehr wie ein Novize aussiehst."
Als die kleine Karawane am nächsten Morgen aufbrach, trug Sheen zum ersten Mal seit langem keine Mönchstracht. Unterwegs reichte der Händler seinem neuen Gehilfen einen Streifen Stoff.
"Nimm diesen Leinwandfetzen. Wenn wir auf andere Leute treffen, spätestens an der Fähre, bindest du dir das Stoffstück um ein Auge. Als ob du es verloren hättest. Und noch etwas. Kannst du dich verstellen?"
"Was meinst du damit?"
"Vielleicht ist eine gute Idee, wenn du dich nicht wie ein gebildeter Klosterschüler verhältst. Viel mehr wie mein einfältiger Lehrling."
"Das macht Sinn. Aber solange wir alleine sind, unterhalten wir uns normal."
"Da bestehe ich darauf. Du kannst toll aus deinen Büchern erzählen. Dafür bringt dieser alte Mann dir alles über Maultiere bei. Cora mag dich ganz gut leiden. Wir können voneinander lernen. Vielleicht lerne ich auf meine Tage sogar noch schreiben und lesen. Das scheint ja ne feine Sache zu sein."
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