2. Max wird ein Ameisenei.
Mit Tränen in den Augen und zornrotem Gesichte lief unser kleiner Max durch den Garten und kam zu einer Felsgrotte, aus der ein Brünnlein plätschernd hervorsprang. Dort setzte er sich auf einen moosigen Stein, stützte den Kopf auf beide Arme und starrte vor sich auf den Boden. Siehe, da lief eine Ameisenschar wie eine lange Prozession geschäftig ihre Straße hin und her. Max schaute ihnen eine Zeitlang zu und dachte: »Wie schön haben's doch die Ameisen! Sie gehen den ganzen Tag spazieren, freuen sich des Lebens, müssen nicht lernen und kennen keine Prüfungen. Wenn ich doch nur auch eine Ameise wäre!«

Er mußte seine Gedanken laut ausgesprochen haben; denn plötzlich hörte er neben sich eine Stimme:
»Willst du, kleiner Faulpelz, wirklich eine Ameise werden?«
Erschrocken wandte Max sich um und gewahrte einen sonderbaren Alten langsam auf sich zutreten. Gott, wie sah der Mann so merkwürdig aus! Woher war er nur gekommen? Auf seiner roten, spitzen Nase saß eine Riesenbrille, um den Hals schlang sich eine dicke, schwarze Binde, und ein grüner altmodischer Rock schleifte hinter seinen Fersen her. Dieser Mann beschaute lächelnd den verblüfften Kleinen mit Augen, die aus buschigen, fuchsroten Brauen hinter der funkelnden Brille wie Laternen leuchteten.
Es war alles so unheimlich, und der tapfere Max hatte Mühe, seine Furcht zu verbergen. Er hätte nicht gewagt, den Alten zu befragen, wer er sei, und wie er in Vaters Garten hereinkäme. Eine Weile betrachtete der Fremde unsern Butziwackel, der schüchtern und gar nicht keck wie sonst, aber neugierig wie immer auch seinerseits den Unbekannten musterte. Der holte jetzt kopfschüttelnd aus einer tiefen Rocktasche eine großmächtige Dose hervor, öffnete sie sachte, stopfte sich eine ausgiebige Prise in die Abgründe seiner großen Nase, nieste dreimal und brummte dann mit näselnder Stimme die sonderbaren Worte:
»Ameis!
Mit Fleiß!
So sei's!«
Leise vor sich hinlachend, schlürfte er dann in seinen grasgrünen Pantoffeln und dem langen Schlepprock den Kiesweg entlang, der zum Gartentürchen gegen den Wald zu führte.
Mit seinem roten Schnupftuch winkte er noch spöttisch Max zu, der ihm verwirrt nachschaute. Er bemerkte noch, wie der sonderbare Mann belustigt und kichernd seinen Kopf schüttelte und sodann geheimnisvoll hinter den Büschen am Wege verschwand. Starr vor Staunen und Verwirrung hatte Max die sonderlichen und unerklärlichen Worte vernommen. Wenn er sie leise nachsprach, so wurde ihm so furchtsam, so bang zu Mute, daß er am liebsten hätte fortlaufen mögen zu Therese und Moritz, die ihn vielleicht schon suchten. Allein, merkwürdig! Er konnte nicht vom Stein aufstehen, es war, wie wenn er festgeleimt wäre. Er wollte den Geschwistern rufen, die er von ferne auf dem Gartenwege sah, aber seine Stimme versagte. Er wollte ihnen zuwinken, aber er fühlte sich so bleiern müde, seine Augenlider waren schwer, sie fielen zu, und es wurde dunkel um ihn. Nein, wie sonderbar ward ihm doch zu Mute! Wurde er nicht klein und immer kleiner? War er nicht jetzt ganz weich und ein rundes Ding geworden? Er wollte die Arme heben, mit den Beinen zappeln, er hätte schreien mögen, weinen, fortlaufen, Widerstand leisten gegen die geheimnisvolle Kraft, die ihn zusehends veränderte und die, wenn sie noch länger über ihn Gewalt hatte, ihn zu einem spurlosen Nichts zusammenschrumpfen ließ. Er war wie eingeschnürt von allen Seiten, und deutlich spürte er, daß er die Form eines winzigen Eies annehme.
In diesem unglücklichen Augenblick dachte er noch an das weiße Wackelfähnlein. Er machte den verzweifelten Versuch, dieses beschämende Fetzchen zu verstecken, umsonst, umsonst!
Schon war Max am Ende seiner Verwandlung angelangt; er fühlte, wie seine Sinne sich verwirrten und umnebelten. Zwei schwarze Schatten tauchten noch vor seinen Blicken auf. O Gott, das waren vielleicht zwei Totengräber, die ihn holten! Gewiß, er täuschte sich nicht, sie hoben ihn sachte empor, und nun machte er den letzten angestrengten Versuch zu schreien:
»Um Gottes willen, ich bin Max, helft mir doch das Zipfelchen verstecken!«
Die vergebliche Mühe brachte ihn aber nur um die letzten Kräfte. Willenlos überließ er sich jetzt dem Schicksal und verlor das Bewußtsein.
3. Wer sein Leben als Ameise beginnt, erfährt Süßes und Bitteres.
Wie lange blieb Max in Ohnmacht? Er konnte es nicht ermessen; aber wahrscheinlich währte der Zustand im Vergleich zu den großen Veränderungen, die mit ihm vorgingen, nicht lange.
Als er zu sich kam, hatte er ein merkwürdiges Gefühl. Hatte ihn jemand für einen Garnwickel gehalten und Fäden über ihn gewunden? Er spürte es doch, er saß oder lag inmitten eines Fadenknäuels, aus dem herauszuschlüpfen er sich tapfer abmühte. Niemals hätte er das Kunststück fertig gebracht, wäre ihm nicht glücklicherweise jemand zu Hilfe gekommen, der sorgsam die Wirrnis der Fäden weitete und ihm Luft machte. Endlich konnte er den Kopf herausstrecken, gottlob folgten die befreiten Arme, und
»Nur Mut«, hörte er jetzt eine Stimme ihm zureden.
Mit einem letzten, gewaltigen Ruck gelang es ihm schließlich, den ganzen Körper frei zu bekommen, und zugleich fühlte er, wie man ihn zärtlich liebkoste und wunderlich beleckte.
»Na«, meinte er überrascht, »was soll das?«
»Ich wasche dich sauber, Kindchen.«
»Wie, mit der Zunge? Bin ich ein Kätzchen geworden? Darf ich bitten, wo bin ich, wer sind Sie, und was ist mit mir geschehen?«
Das hilfreiche Wesen antwortete:
»Still, Kleines! Wie bist du doch so neugierig! Jetzt, wo du eben erst aus deinem Gespinst geschlüpft bist, kannst du noch nichts verstehen. Gedulde dich, bald wird dir alles klar werden, du kleiner Naseweis.«
Naseweis hatte sie gesagt. Er war also schon erkannt und hütete sich, jetzt noch mehr wissen zu wollen. Aber bei der gütigen Ruhe, mit der er von allen Seiten gestriegelt wurde, erwachte sein Denken; seine Gedanken ordneten sich, und er wollte sich selbst Rechenschaft geben von seinem neuen Zustande. Gottlob, die letzten Wundererlebnisse hatten seinem Gedächtnis nicht weiter geschadet. Zunächst aber gab es leider, leider keinen Zweifel. Er befand sich in der ägyptischen Finsternis, von der er in der Schule einst gehört hatte, oder was ganz entsetzlich wäre, er war blind! Wie konnte er aber dann wissen, wo er sich jetzt aufhielt? Jawohl, Blinde haben ja solch feines Gefühl für den Raum, in dem sie sich befinden. Und er, er war in einem unterirdischen Zimmer, er wußte es, ohne herumzutasten. Ringsum beobachtete er mit feinstem Sinn ein emsiges Arbeiten von vielen geschäftigen Wesen, ohne solche zu sehen. Hatte er einen neuen Sinn bekommen? Er beantwortete sich jetzt von selbst die vorhin gestellten Fragen. Er war eine Ameise; das Wesen, das vor ihm stand, war auch eine Ameise, und sie beide befanden sich in einem Ameisenhaus. Soviel begriff er einstweilen, so wunderbar es auch war. Verworrene Bilder aus der letzten Vergangenheit tauchten in seinem Gedächtnis auf wie ein halbvergessener Traum. War nicht ein merkwürdiger, alter Herr dagewesen mit einem langen, grünen Rock und rotem Schnupftuch, mit Brille und Tabaksdose, der unversehens in dem Augenblick auf ihn zugetreten war, als er sich gewünscht hatte, eine Ameise zu sein, ohne Prüfungsnot und Bücherqual? Moritz, Therese? Wo werden sie sein? Zu Hause bei Vater und Mutter!
Dieser Gedanke bewegte Max schmerzlich, allein er beruhigte sich nach und nach. Es war nun einmal nichts zu ändern. Weil er nicht lernen wollte, hatte er sich das gewünscht, was er jetzt war. Onkel Walter sagte stets: »Ein Mann muß die Folgen seines Handelns auf sich nehmen.« In der Schule hatte er ein Sprichwort gelernt: »Wie man sich bettet, so liegt man.« Mit vernünftiger Überlegung schloß er seine Betrachtung:
Читать дальше