Fünf weitere Minuten in gemütlicherer Gangart brachten ihn zu seiner Wohnung in die Grosvenor Road, die er, weil preiswert, in der Zeit gemietet hatte, als er versuchte, in seinem Beruf Fuß zu fassen, und die er aus Gewohnheit, Gleichgültigkeit und mangelnder Initiative behalten hatte. Sie war unordentlich, aber gemütlich. Er kleidete sich aus und frottierte sich ab, denn bei den Strapazen in der Schwüle des Abends war er stark ins Schwitzen gekommen. Wieder wunderte er sich über die Geschwindigkeit, mit der sich die Frau bewegt hatte.
Später im Bett fragte er sich, ob die ungewöhnliche Ermüdung durch den langen Heimweg ausreichen würde, die Gestalt in die Landschaft seines Traums zu holen, in der er in den vergangenen zwei Wochen nahezu Nacht für Nacht herumgewandert war. Aber ausgerechnet an diesem Abend glitt er in einen normalen Schlaf. Es war, als hätte sich die angestaute Langeweile seines freudlosen Lebens in dem enormen Interesse an der Gestalt einer unbekannten Frau im Schatten der Dämmerung gelöst.
Das Semester war vorbei, und so fuhr er am nächsten Tag zu seiner Frau. Die arme Seele hatte jedoch einen ihrer schlechten Tage und wünschte alles – nur nicht seine Gesellschaft.
Also war er frei für seine üblichen Wanderungen über die Hügel. Bei Einbruch der Dämmerung kehrte er erschöpft zu der roten Ziegelvilla zurück, denn er war länger als sonst unterwegs gewesen. Das rettete ihn vor einem Abendbrot mit seiner Frau und ihrer Betreuerin. Man hatte Sandwiches und eine Flasche Milch neben den Kamin in seinem Schlafzimmer gestellt, aber die Sandwiches waren so trocken, dass sie sich an den Ecken bogen. So überließ er sie ihrem Schicksal und trank nur die Milch, um bald darauf im Korbstuhl neben dem Feuer in einen unruhigen Halbschlaf zu fallen.
Der Stuhl war unbequem, außerdem knarrte er im Takt seines Atems, was ihn störte. Trotzdem stellte sich das ein, was ihm die ganze Woche versagt geblieben war: der Traum, und allen Versuchungen, sich zu bewegen und aufzustehen, trotzend, beobachtete Malcolm, wie sich die Bilder auf der Schwelle zum Schlaf bildeten, wieder auflösten und erneut in immer deutlicheren Formen entstanden.
Zuerst waren es Fetzen aus dem Alltag: seine Hauswirtin; die Putzfrau im Labor des Krankenhauses; die Betreuerin seiner Frau; das ältliche Mädchen, halb Schwester, halb Haushälterin. Er wartete geduldig, wohlwissend, dass es der übliche Trick seines Verstandes war, sich von oberflächlichen Eindrücken zu befreien, bevor sich die tieferen Schichten öffneten. Ein Rest seines bewussten Verstandes, durch wissenschaftliches Training geformt, beobachtete eine Prozession ältlicher, einfacher und geschlechtsloser Wesen. Dann tauchte die Polizistin vom Themseufer auf, und seine Hoffnungen stiegen; aber sie reihte sich nur in die Prozession ein.
Geräusche auf dem Treppenabsatz rissen ihn hoch, und er hörte durch die offene Schlafzimmertür die quengelnde Stimme seiner Frau. Offensichtlich hatte sie wieder eine schlechte Nacht. Sollte er nach ihr sehen? Aber aus der Vergangenheit wusste er, dass es sie aufregen würde. Ihr eigener Arzt war zuständig; von ihm würde er hören, was los war, und er würde alles für die unglückliche Frau tun, die sich zwischen Bett, Couch und ihrem Rollstuhl bewegte, seit ihr Versuch, sein Kind zur Welt zu bringen, gescheitert war.
Die leichte Störung hatte gereicht, ihn kurzfristig von der lähmenden Müdigkeit zu befreien, die durch den langen Tag im Freien entstanden war. Er zündete sich eine Zigarette an und starrte ins Feuer. Seine Erinnerung ging zurück zu der Nacht vor zwanzig Jahren, die das lebhafte kleine Ding, das er geheiratet hatte, in eine neurotische, korpulente, halb gelähmte Matrone verwandelt hatte. Er haderte nicht mit dem Schicksal, das hatte er lange hinter sich; er saß nur dort, die Zigarette zwischen den vom Tabak gelben Fingern, und dachte darüber nach.
Unverständlicherweise gab er sich selbst die Schuld, wie nach einem groben Fehler bei einer Diagnose. Sie beide hatten das Kind, das das Chaos hervorgerufen hatte, sehnlichst herbeigewünscht, aber das schien keinen Unterschied zu machen. Letztendlich lag die Schuld bei ihm; ohne ihn hätte es kein Kind gegeben – die Logik war unausweichlich. Aber es war verfänglich, in der Vergangenheit zu wühlen, ein Luxus, der seinen Preis forderte und zu Tagen voller Depression führte. Nur eine strenge Kontrolle des Verstandes und der Fantasie konnte seine inneren Dämonen, die wilden Tiere von Ephesus, in Schach halten. Diesen Kniff hatte er vor Jahren entdeckt, und es hatte ihn gewundert, dass seine Kollegen in der Psychiatrie ihm nie auf die Schliche gekommen waren.
Er rief seine Gedanken von diesem gefährlichen Thema zurück und erinnerte sich an das Bild des Themse-Ufers an einem milden nassen Winterabend, an dem die letzten Blätter der Platanen auf dem Pflaster Muster bildeten und der Fluss schnell und dunkel und voller Strudel vorbeiströmte. Er erlebte diesen Moment erneut in lebhafter Vorstellung, ging weiter und weiter zurück bis zu seiner Promotion. Er sah die Szene der Preisverleihung, die Studenten, die ihre Diplome in Empfang nahmen, übermütig und schlurfend, unreife Jungs, mit einer Verantwortung belastet, die viel zu groß war, als dass sie von einem menschlichen Wesen hätte getragen werden können, und fragte sich, wie vielen von ihnen er zugetraut hätte, eine Mausefalle aufzustellen, geschweige denn, ihnen Leben und Tod anzuvertrauen. Eine Fehleinschätzung seines Professors für Geburtshilfe hatte zu dem Wrack im Raum nebenan geführt.
Erneut ging er in Gedanken zurück und dachte an das verwunderte Gesicht der kleinen alte Dame, die er irrtümlich für eine Patientin gehalten hatte, und den grinsenden Gesichtsausdruck ihres Sohnes, dem gewisse Hintergründe seiner Fachrichtung bekannt waren, die zu routinemäßigem Ausschluss führten; und ihm fiel ein, wie der Professor für Geburtshilfe, als Entschuldigung für sein Versagen, auf einige Fälle mit einer Prädisposition für das Unglück hingewiesen hatte, das durch seinen eigenen Mangel an Vorsicht entstanden war, und mit Bitterkeit dachte er an die Ideale und die Selbstdisziplin seiner Jugend und seiner frühen Männlichkeit, die ihm weder Demütigung noch Selbstvorwürfe erspart hatten.
Erneut zwang er seine Gedanken unter Kontrolle und wanderte im Geist zurück zum Fluss, dem Themse-Ufer und der schattenhaften, dahineilenden Gestalt, die er, in Erinnerung an ein vergessenes Schulbuch, „winkende Fee“ nannte, obwohl sie weiß Gott nicht gewunken hatte, und er entrüstet gewesen wäre, wenn sie es getan hätte. Außerdem wäre dies höchst problematisch gewesen, selbst wenn sie einigermaßen passabel ausgesehen hätte.
Er malte sich aus, ihr nachzugehen wie an jenem Abend; dieses Mal aber ohne ein Gefühl der Eile oder des Misslingens, sondern nur in der schnellen mühelosen Bewegung des Traums. Das Themse-Ufer und die Lichter verschwanden, und er war wieder in der weiten Landschaft des Schlafs, farblos wie mattes Silber in einem Licht, das es weder an Land noch auf See gab.
Aber es war keine Vision; die Gestalt war verschwunden. Indem er sich verzweifelt an die Schwelle des Schlafs klammerte, versuchte er bewusst, sich in die Landschaft voller Schatten zu drängen, aber sie entglitt ihm und drohte, sich in einen Albtraum zu verwandeln. Dann wurde der Bann durch die Stimme der Betreuerin, die in der Halle telefonierte, gebrochen, und er war wieder voll da.
Das Geräusch eines Autos, Schritte auf den Stufen, Gemurmel im Schlafraum nebenan, aber er bewegte sich nicht. Als sich die Schlafzimmertür erneut öffnete und er auf dem Treppenabsatz schwere Schritte hörte, stand er mit den lässigen Bewegungen einer Katze auf, öffnete die Tür und winkte seinem Kollegen schweigend, hereinzukommen. Im dumpfen Glanz des verlöschenden Feuers sahen sich die zwei Männer an. Malcolm wäre nie auf die Idee gekommen, das Licht anzuzünden.
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