Jahr für Jahr kampierte er in möblierten Zimmern, in denen sich Bücher, Papiere und Proben in verschiedenen Konservierungsstadien häuften. Seine Wirtin durfte ihn nach ihrem Gusto bekochen und sein Schneider ihn nach seiner hochgeschätzten Modeauffassung kleiden. Sein Leben war nur ein halbes Leben, aber die Hälfte, die er lebte, war ein Segen für andere. Wenn dieser Mann, der nie ein Skalpell in die Hand nahm, neben dem Chirurgen stand und diesen zu der Stelle im Gehirn führte, wo sich die Wurzel allen Übels eingenistet hatte, das in so vielen grotesken und bizarren Auswüchsen in Erscheinung trat, wurden der Blinde, der Hinkende, der Taube, der Epileptiker, der Geisteskranke – sie alle wurden von ihren Zwängen befreit und kehrten zu einem normalen Leben zurück. Was er über die Funktionsweise des Hirns nicht wusste, war es nicht wert, gewusst zu werden. Über das Gehirn selbst wusste er wenig.
Während er jetzt forsch neben dem dunkel dahinströmenden Wasser ausschritt, fragte er sich, warum er bisher nie diesen Weg der überfüllten U-Bahn vorgezogen hatte. Auch der Gedanke an ein eigenes Auto war ihm in den letzten Jahren nie gekommen; ein Auto war Unsinn, zumal die Parkplätze am Krankenhaus von den Nobelkarossen der Studenten belegt waren, die sie sich zwar nicht leisten konnten, aber glaubten, diese für ihr Prestige zu brauchen. Er, der alles Prestige der Welt besaß, nahm für Hausbesuche ein Taxi.
Er ging gerne spazieren. Wenn er seine Frau besuchte, verbrachte er den Tag mit einem ausgedehnten Marsch über die Hügel. Abends, von der frischen Luft und der ungewohnten Anstrengung erschöpft, schlief er in einem Sessel vor dem Feuer ein. Die Ironie all dessen wurde ihm nie bewusst. Mehrfach hatte er eine Wandertour ins Auge gefasst, aber es gelang ihm nie, Urlaub zu machen. Stattdessen arbeitete er im August, wenn das Krankenhaus knapp besetzt war, für drei. Andere Interessen als seinen Beruf hatte er nicht, und Entspannung suchte er nur bei der Lektüre internationaler Fachliteratur.
Ein hartes, freudloses Leben, dessen Widersinn ihm nicht bewusst wurde. Da es in seinem Fachgebiet nur wenige Therapiemöglichkeiten gab, bestand der größte Teil seiner Arbeit aus Diagnostik. Früher einmal hatte er – für seine Kollegen unvorstellbar – über seine Fälle reflektiert, aber in den letzten Jahren die Taten Gottes mit gewisser Philosophie akzeptiert, indem er eine Diagnose und eine Prognose herausbellte und dann die Angelegenheit aus seinem Kopf verbannte, ausgenommen bei Kindern.
Manchmal hatte er daran gedacht, sich zu weigern, Kinder zu untersuchen, aber das war in diesem Krankenhaus nicht möglich, wo er alles nehmen musste, was kam. Kranke Kinder belasteten ihn. Wenn er die ersten zarten Anzeichen einer Erkrankung bei einem Kind entdeckte, stand dessen Zukunft so klar vor seinen Augen, dass ihn das Bild tagelang verfolgte. Und was war die Folge? Sein Verhalten gegenüber Kindern war noch ungeschickter. Das schreiende Kind, die ungehaltene Mutter und die angewiderten Studenten boten ein unerträgliches Bild, zumal die Meinung herrschte, dass es für seine Prognose weder vor Gott noch vor Menschen eine Rechtfertigung gab. Wenn er sagte, ein Kind wächst als Krüppel auf, dann würde es als Krüppel aufwachsen. Er behauptete das so souverän, dass es wie ein Urteil klang.
Genauso wie über Krankenhauskorridore – wo er es den Krankenpflegern und Schwestern überließ, ihm mit den Betten und Tragen auszuweichen,– stürmte er jetzt am Themse-Ufer entlang. Es gab keinen Fußgänger, den er nicht überholte.
Plötzlich bemerkte er vor sich einen Schatten. Ständig dasselbe Tempo haltend, gelang ihm ein Überholmanöver nicht. Er musste die Gestalt unbewusst wahrgenommen haben, denn als er sie bemerkte, wurde ihm klar, dass er ihr bereits eine beträchtliche Weile gefolgt war, und während ihm dies dämmerte, begann seine Fantasie zu arbeiten. Die Szene ähnelte einem Traum, der ihn in den letzten Jahren verfolgte, wenn er überarbeitet war, und diese Träume führten zu noch schlechterem Schlaf. Malcolm lag dann in einem seltsamen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, nicht weit genug weg, um wieder in seinen Traum einzutauchen, und nicht wach genug, um ihn als Traum zu realisieren. Immer wieder glitt er über die Schwelle und kehrte zurück, manchmal im Reich des Schlafs wandelnd, manchmal die schattenartigen Szenen mehr oder weniger bewusst wie einen Film im Kino anschauend.
Gleichbleibend spielten diese Träume an Land und auf See, und sehr oft verbanden sich Land und See, was er auf seine Wanderungen über die Hügel während der Besuche bei seiner Frau zurückführte. Nie tauchten in diesen Szenen Menschen auf, mit einer Ausnahme: Eingehüllt in einen Mantel mit einem breitkrempigen Hut erschien eine Gestalt, die er auf eine Portwein-Werbung zurückführte, in den farbigen Lichtern, die auf einem Gebäude an- und ausgingen, wenn er zwischen seinen Behandlungsräumen in der Wimpole Street und seiner Wohnung im Pimlico-Viertel pendelte.
Obwohl Psychologie für ihn eine untergeordnete Rolle spielte und er sie nur für seine medizinischen Diagnosen als Unterscheidungshilfe verwendete, hatte er seine theoretischen Kenntnisse in seiner eigenen Sache in der Praxis umgesetzt, indem er einen Teil der Traumsymbole auf die mit Bungalows bestückten Hügel hinter der Stadt an der See zurückführte und die anderen auf die Reklame für Sandeman Portwein, die ihm oft genug begegnet war. Er schrieb das seiner unterdrückten Sexualität zu, eine gute Erklärung für die meisten respektablen Bürger, und für einen Akademiker seines Formats geradezu ein Indiz. Das andere Symbol erklärte er mit dem unbewussten Wunsch nach dem so malerisch angebotenen Stimulans – der sehr verständliche Wunsch eines überarbeiteten Mannes. Warum sollte er sich Gedanken machen? Beide Wünsche wurden ohne den geringsten Kompromiss unterdrückt, und selbst einem Mann wie Dr. Rupert Annesley Malcolm, Neurologe und Endokrinologe, war klar, dass sie sich durchaus in seinen Träume breit machen könnten. Dass es mehr sein könnte – darauf würde er nie kommen.
Die in einen Mantel gehüllte Traumgestalt, die vor ihm in der Dämmerung über das nasse Londoner Pflaster wandelte, wie sooft zuvor in den Landschaften seiner Träume, regte seine Fantasie an. Natürlich wusste er, dass es eine Frau in einem Regenmantel war, aber dennoch – die Begegnung mit der nun objektiv wahrgenommenen Fantasie seines Unterbewusstseins entzückte ihn.
Die Gestalt schritt nach wie vor etwa zwanzig Meter vor ihm zügig aus. Dr. Malcolm beschleunigte seinen Schritt, aber es gelang ihm nicht, den Abstand zwischen sich und der Gestalt, die er jetzt geradezu verfolgte, wahrnehmbar zu verringern.
Sein nächster Impuls war loszurennen, aber das würde der Aufmerksamkeit eines Hüters von Gesetz und Ordnung nicht entgehen, und er hatte kein Verlangen danach, vor ein Polizeigericht zitiert zu werden, wo man seiner Erklärung, nur einen Traum analysiert zu haben, kaum Glauben schenken würde.
Malcolm war ein Mann, der für Frauen keine Verwendung hatte, und bei den Frauen war das umgekehrt, soweit ihm bekannt war, genauso.
Obwohl sich allmählich der Abstand zwischen ihm und der Frau vor ihm verringerte, war es höchst unwahrscheinlich, dass er sie einholen würde, selbst wenn ihm die Ampeln wohlgesonnen wären. Dr. Malcolm strengte sich noch mehr an, denn er wollte wenigstens einen Blick in ihr Gesicht werfen. In diesem Moment sah er eine Polizistin, die in ihrer unkleidsamen Uniform genauso aussah wie Mrs. Noah, und ihn argwöhnisch betrachtete.
Und dann geschah genau das, was er befürchtet hatte – die Ampel sprang auf Rot; der frei gelassene Verkehr ergoss sich über die Brücke, und die Gestalt in dem Mantel tauchte in der Londoner Dämmerung unter und ließ ihn mit einem unerklärlichen Gefühl der Enttäuschung, des Verlusts, ja, der Leere zurück.
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