Mir wurde erzählt, dass ich Schritt für Schritt in Richtung AT käme, sofern die Leistung stimme. Bei einer Spitzenleistung würde ich 9 Jahren brauche, bis ich dort ankäme. Mit der Bewertung meines Diploms war ich diesem Kollegen also 9 Jahren im Rückstand, obwohl ich alle Arbeitsaufträge sofort bearbeiten und erledigen konnte. Jetzt verstand ich, dass das Gehalt aus dem Universitätsabschluss, Titel und Alter zusammenzurechnen war. Ungerecht und sehr frustrierend.
Es gab nur einen kleinen Lichtblick - ich glaubte nämlich, jetzt meine Probleme mit dem Aufzug verstanden zu haben: In jedem Gebäude gab es Flure, Stockwerke, etwas, das sich als „Earth Missile“ übersetzen ließ, und Keller und Tiefgaragen. Bei uns in der Firma gab es immer einen Keller, deswegen ist der „Earth Missile“ der zweite Flur, damit ist der vierte Flur der dritte Stock usw.. Die Büronummern beziehen sich auf die Flurnummer und dadurch schienen sie immer einen Stock höher zu sein als sie tatsächlich waren. Ich fühlte mich jetzt besser, nachdem ich dieses Rätsel gelöst zu haben schien.
Am Abend diskutierte ich die Neuigkeiten mit meinen Mitbewohnern, um zu erfahren, dass sie alle ein Problem mit dem promoviertem Kollegen hatten, insbesondere mit den herablassenden „Doctors“ ohne jegliche praktische Erfahrung. Wir verglichen Gehälter und Ausbildung und fühlten uns ziemlich verarscht.
Donnerstag
Ich fragte meinen Chef wegen einer Beschäftigung. Bisher hatte ich den Kollegen P. beim Versuch, mein Umfeld zu verstehen, nur von der Arbeit abgehalten. Ich bekam viele technische Artikel zu lesen, außerdem erwähnte er einen baldigen Deutschkurs. Er verbrachte die meiste Zeit mit dem neuen Arzt, weil er trotz seines AT keine blasse Ahnung hatte, worum es eigentlich in der Firma ging und eingearbeitet werden musste. Ich hätte im Gegensatz dazu sofort arbeiten können, durfte aber nicht, wahrscheinlich weil ich kein Deutsch konnte. Die Artikel waren langweilig, und ich war froh, als wir zum Mittagessen gingen.
Zur viert standen wir in der Schlange, suchten einen Sitzplatz, aßen und machten einen Rundgang. Andere Gruppen kamen uns entgegen, die die Zeit zwischen 12 und 13 Uhr ebenso totzuschlagen versuchten.
Unser Büro wurde von der Sonne, die direkt hineinschien, recht warm und ich brauchte die frische Luft, um wach zu werden. Nachmittags war es besonders schlimm, und sobald die Wirkung des Mittagskaffees nachließ, fielen meine Augen zu.
Kollege P. war sehr nett und hilfsbereit und ich konnte gut mit ihm ratschen. Heute sprach ich mit ihm über meine Integration und darüber, dass ich eine Wohnung suchen müsse. Er erklärte mir, dass die Mietwohnungen in der Zeitung annonciert würden und dass die guten Angebote schwer umkämpft seien. Ich müsse die Süddeutsche Zeitung Dienstag- und Donnerstagnachts kaufen, um die Mittwoch- und Freitagsausgaben so früh wie möglich zu bekommen und um mich so als einer der ersten bei dem Makler zu melden.
Wir redeten dann über die verschiedenen Zeitungen in England. Im Vergleich ist The Sun wie die Bild in Deutschland, man ist sich zu fein, das Blatt zu kaufen, liest aber immer mit über die Schulter des Nachbarn in der U-Bahn. Er empfahl die Abendzeitung , um Deutsch-Lesen zu üben und gleichzeitig den neuesten Klatsch zu erfahren.
Trotz Langeweile in der Arbeit war ich abends müde. Ich fühlte mich gestresst, obwohl ich nichts Dringendes zu tun hatte. Wahrscheinlich war es nur die Anstrengung, so viel Neues zu verarbeiten, und die Unsicherheit, allein zu sein.
Endlich Freitag
Um viertel vor acht wurde mir mein erster Arbeitsauftrag erteilt. Ich musste zum Würstlstand, um das gemeinsame Dienststellenfrühstück zu kaufen. Der Stand war eine Holzhütte mit zwei älteren Damen und verschiedenen Kochtöpfen und Heizplatten. Hier standen die Assistenzkräfte und ein Fachhochschulabsolvent brav in derselben Schlange.
Etwas wenig technisch, aber trotzdem eine Herausforderung – mein erstes Gespräch in der Arbeit in Deutsch: „Ein paar Debretziner, bitte!“
Alles wurde verstanden: Weißwurst, ein paar Wiener, die unterschiedlichsten Senf-Kombinationen. Nur Leberkäse-Semmel, was hier „Laberkassemmi“ hieß, hatte ich nicht ganz richtig ausgesprochen.
Der Auftrag war erledigt, ich ging zurück ins Büro, und wir setzten uns an den Besprechungstisch. Jeder hatte ein großes Glas und einen Teller mit einer Brezel , die mit Zucker zerstreut war. Mein Chef holte Weißbier aus dem Kühlschrank. Es schien ganz normal, jeden Freitag bereits in der Früh mit dem Saufen zu beginnen, es war unglaublich. Das Weißbier schmeckte mir nicht, und die Brezeln waren „Brezn“, der Zucker war Salz. Irgendwie war in Deutschland nicht alles so, wie es auf den ersten Blick schien.
Der neue Oberarzt sprach dann über das Bier aus dem Norden, und es wurde detailliert über die verschiedenen Brau-Arten und Traditionen gesprochen, und auch über ein Reinheitsgebot, das mir hinsichtlich der Politik der späten 30er Jahre etwas suspekt schien, sich aber nur auf das Bier bezog. In England sei das Bier warm und habe keinen Schaum, wurde erzählt (wahrscheinlich war es auch nicht rein).
Es entwickelt sich ein Zweiergespräch zwischen den Doktoren über Studiengänge, unter anderem über deren Väter – anscheinend gibt es keine Doktormuttern. Die Promotion schien mir eine Art unbefleckte Empfängnis zu sein.
Es wurde wieder über den englischen Bachelor hergezogen und dann weiter über das schlechtes Essen und das miese Wetter in Großbritannien. Ich lernte einiges dazu, unter anderem, dass es wegen des Golfstroms in England nie Frost oder Schnee gibt. Ich protestierte mehrmals, hatte aber als Zeitzeuge leider nichts zu melden. Die Herren waren noch nie in England gewesen, wussten aber bestens Bescheid und hörten gar nicht zu. Ich war erst eine Woche hier und fühlte ich mich irgendwie nicht richtig ernstgenommen.
Das Wochenende
Mit Paul, meinem Mitbewohner, war ich zum ersten Mal auf dem Oktoberfest oder, richtig ausgesprochen, auf der „Wiesn“. Eigentlich war ich sogar drei Mal dort, und zwar von Freitag bis Sonntag. Ich glaube, es gab eine Unterbrechung, aber dies erlebte ich nur vom Bett aus.
Auf der Wiesn gab es viel Gedränge (deutsche Warteschlangen) und Türsteher, deren Gnade man ausgeliefert war. Einmal im Bierzelt drin, kam die nächste Herausforderung, nämlich einen Tisch zu bekommen. Am Freitag und Samstagabend sprachen wir junge Deutsche an, die so begeistert waren, Englisch reden zu können, dass wir mit auf den Bänken stehen durften. Die Bedienungen waren extrem kräftige Frauen, die bis zu zwölf Maß Bier gleichzeitig tragen konnten, aber leider alle einen Hörschaden hatten, und auch wenn sie direkt angesprochen wurden, so taten, als hätten sie nichts verstanden. Eine sagte „Komme sofort!“, wurde aber dann nie wieder gesehen.
Nach einer Dreiviertelstunde schafften wir es doch, ein erstes Bier zu bestellen, Paul hatte gleich doppelt soviel bestellt, um weitere Wartezeiten zu vermeiden. Ich war kein großer Biertrinker, zwei Maß würden für mich reichen.
Die Musik war furchtbar, immer wieder wurden alte Lieder gespielt und etwas, das “Life is Live” hieß. Am schlimmsten war “The Birdy Song”, dabei wurden Japaner aus dem Publikum geholt, um zu dirigieren, was sie nicht konnten und was alle irgendwie lustig fanden.
Die Deutschen am Tisch kannten alle Lieder und sangen und schaukelten. Insbesondere heizte jener „Birdy Song“ die Stimmung an. Ohne zwei Maß wäre dies alles unerträglich gewesen.
Als ich mein Alkohollimit bereits erreicht hatte, schaffte es Paul noch einmal, eine Doppelrunde zu bestellen.
Die jungen Einheimischen wollten nur über den Weltfrieden reden, fast jeder von ihnen hatte Brighton im Rahmen eines Schullaustausches besucht. Keine Überraschung, dass sie eine seltsame Meinung über England hatten - Brighton war der Ort, wo die Engländer zum Sterben hinziehen, im Glauben, an der Côte d'Azur der dreißiger Jahre zu sein...
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