Viele Kantonführer forderten eine Liquidation der Mutationen und ein vollständiges Begräbnis des gescheiterten Projekts. Andere schlugen sich auf die Seite der Mutanten und verteidigten sie mit der Begründung, dass der Kodex der Andragon-Kantone verletzt werden würde, weil die Mutierten immer noch Menschen waren und ein Recht auf Leben haben sollten.
Dann waren da noch die Wissenschaftler, die zwischen den Parteien standen und versuchten, ihren wissenschaftlichen Vorteil aus dem Geschehenen zu ziehen.
Während alldem Drumherum gelang es Mutanten, Uranus zu verlassen. Viele wurden gejagt, ob von überzeugten Antimutanten, Kantongarde-Soldaten oder einfachen Söldnern. Viele Mutanten starben, doch auch viele entkamen und schienen spurlos zu verschwinden.
Als wenige Jahrhunderte später Gras über die Sache gewachsen war, schienen wie aus dem Nichts immer und immer wieder Mutanten zu erscheinen.
Manche vermuteten, dass sie im Verborgenen einen eigenen Stamm entwickelt hatten. Andere glaubten, dass sie sich vereinzelt mit Menschen gepaart und vermehrt hatten. Fortan waren Mutationen Bestandteil der menschlichen Bevölkerung.
Als schließlich Thorwald Ravenberg das Gesetz der freien Andragon-Mutanten festlegte, wurden erneute Rufe zur Vernichtung der Mutanten zu Boden geworfen. Seither lebten Mutanten und Halbmutanten entlang der reinen Menschen, teils respektiert und sogar beneidet, meist jedoch gehasst und illegal gejagt.
Es gab nicht mehr viele Mutanten und Morgaine hätte bei Maurizius am wenigsten mit einem gerechnet. Doch diese entsetzliche Telepathin befand sich direkt vor ihren Augen. Sie war neben Ravenberg und durchwühlte ihre Gedanken und Erinnerungen wie ein verschrecktes und zugleich unvorsichtiges, beängstigendes Wesen.
Morgaine konnte nichts tun als vermuten, dass Ravenberg durch die Mutantin – abgelesen an seinem kleinen Bildschirm am Tisch – ihre sämtliche Gedanken kannte. Völlig egal was sie tat, sie konnte sich nicht verstellen.
Morgaine entschied gezwungenermaßen schlichtweg sie selbst zu sein.
Langsam atmete sie ein und antwortete auf Ravenbergs Begrüßung. »Maurizius Ravenberg, Führer des Andragon-Kanton-Zusammenschlusses.«
Fast hätte sie ein »Es freut mich, sie kennen zu lernen« hinzugefügt. Doch das blubbernde Geräusch, das aus Richtung der Mutantin kam, sagte Morgaine fast wie eine unhörbare Botschaft, dass die Situation nicht nach derartigen Floskeln verlangte.
Ravenberg verzog den dünnen, markanten Mund zu etwas Eigenartigem, dass man unter diversen Umständen als Lächeln hätte interpretieren können.
Seine kurzen schwarzen Haare waren ordentlich nach hinten frisiert. Morgaine schätzte ihn allein anhand seines schmalen aber nicht unattraktiven Gesichts auf Mitte dreißig. Sie hatte Thorwald gut gekannt, sein Sohn hatte ihrer Meinung nach nicht viel von seinem Vater.
Zu früheren Zeiten hatte Morgaine des Öfteren Thorwald Ravenberg auf dem damaligen Hauptsitz des AKZ auf der neuen Erde im ‚Erbe des Lichts‘-System besucht. Dort hatte er ihr zwar von einem Sohn erzählt, sie hatte ihn jedoch nie zu Gesicht bekommen. Thorwald hatte ihr viel anvertraut, nicht jedoch die Details über Maurizius. Es war das erste Mal, dass sie ihn überhaupt sah.
»Mein Vater«, fing Maurizius erneut in gedehntem Tonfall an und verzog seinen Mund zu dem seltsamen Lächeln, »er hat einmal von ihnen gesprochen ...« Er schien auf einmal in die Ferne zu starren, bis er schließlich wieder Morgaine mit seinen grauen Augen anblickte. »Er sagte, sie sind sehr ... zuverlässig und ... loyal.«
Das Wort ‚loyal‘ kam Morgaine wie eine Ewigkeit vor. Sie wusste nicht was sie sagen sollte und entschied sich zu schweigen.
»Morgaine Hera.« Er betonte die letzte Silbe ihres Namens mit besonderer Länge. »Ich habe einen Auftrag für sie. Einen geheimen Auftrag, für sie und ... die Stronghold. Die Zukunft der gesamten Kantone von Andragon könnte von den Ergebnissen dieser Mission abhängig sein.« Er machte eine bedeutende Pause.
Morgaine schwieg und wartete. Sie versuchte ihre enorme Anspannung zu verbergen.
»Außer ihnen und ihrer Schiffsbesatzung darf niemand von dieser Mission erfahren, da es unter Umständen eine Panik in den Andragon-Kantonen auslösen könnte. Ich hoffe ich gehe richtig in der Annahme, dass sie dazu fähig sind, ihre Besatzung kommunikationstechnisch unter Kontrolle zu halten.« Es klang mehr wie eine Aussage als eine Frage.
Dennoch brachte Morgaine ein stummes Nicken zustande.
»Wie ich bereits sagte, ist es ein absolut geheimer Auftrag.« Ravenberg drehte in einer unendlich langsamen Bewegung seinen Kopf und schien neben Morgaine zu blicken. Aus dem Augenwinkel konnte Morgaine feststellen, dass Brooge mit ihrem Pferdegrinsen neben ihr stand. In der ganzen Zeit und angesichts der Umstände hatte Morgaine fast nicht registriert, dass Brooge mit ihr den Raum betreten und die ganze Zeit links neben ihr gestanden hatte.
»Lieutenant Brooge.« Ravenbergs Stimme klang so, als würde er ein selbst gepflücktes Blumensträußchen seiner zehnjährigen Nichte als Geschenk in Empfang nehmen. »Ihr Befehl lautete, Captain Morgaine Hera zu mir zu begleiten.« Ein nicht interpretierbares Zucken schnellte fast zeitgleich mit dem der Mutantin über seinen Mund.
»Und ... Und hier ist sie!«, sagte Brooge zu schnell. Ihr astreines Pferdelächeln kam ins Wanken. Unsicherheit kroch über ihre Züge.
»Sie sind in meinen Raum hereingekommen.« Ravenbergs Satz war weder als Feststellung, noch als Frage oder Aussage zu identifizieren.
Morgaine spürte Spannung im Raum heran steigen. Brooges Lächeln war nun ganz aus ihrem Gesicht gewichen. Stattdessen wurde sie langsam bleich.
Dafür schien Ravenberg ein unerwartetes, äußerst eigenartiges Lächeln um seinen Mund spielen zulassen, als er in lauterem Ton sprach. »Nun! Ich hoffe, sie haben ihren zweiten Befehl, die Abfallwiederverwertungsanlage in Sektor C betreffend, nicht vergessen.«
Brooges Pferdegebiss war entblößt, jedoch ohne eine Spur von Lächeln darauf. »Ich ... Ich verstehe nicht ganz ... He ... Herr Ravenberg«, stotterte sie.
»Sie werden«, sagte Ravenberg einrenkend. Ohne dass Morgaine eine Geste hätte registrieren können, bewegte sich einer der Cyborgs von der Wand fort auf Brooge zu und berührte sie mit seiner eisernen Hand an der Schulter.
Sein Körper war in Richtung der Tür gedreht, durch die sie und Morgaine hereingekommen waren.
Verdutzt und mit offenem Mund verstand Brooge, dass sie den Raum zu verlassen hatte. Sie blickte mehrmals zwischen Ravenberg und dem Cyborg hin und her und drehte sich schließlich stockend um. Der Cyborg ließ seine Hand auf Brooges Schulter ruhen und begleitete sie nach draußen, ohne zurückzukehren.
Langsam wandte sich Morgaine wieder Ravenberg zu, der mit aneinander gelegten Händen hinter seinem Tisch saß und leicht lächelte. Sie versuchte ihre Anspannung und Unsicherheit auf ihrem Gesicht zu verbergen, wenngleich sie spürte, dass die zuckende Telepathiemutantin diese Impressionen und Gedanken aus ihrem Kopf herauszusaugen schien.
»Hören sie genau zu.« Ravenbergs Stimme klang nun scharf. »Die Späher des AKZ haben vor bereits geraumer Zeit ein weiteres Bogenscheinportal entdeckt. Es führt zu einem bislang unerforschten System, das in internen Kreisen als ‚Grüner Schlund‘ bezeichnet wird. Außer einem riesigen grünen Phosphornebel und einem scheinbar endlosen Asteroidenfeld, scheint nichts in diesem System zu sein.«
Noch ein anderes System. Und noch dazu ein völlig unerforschtes, dachte Morgaine und wurde sich in dem Moment klar darüber, dass die Mutantin ihre Gedanken gelesen hatte.
Wie als Antwort auf ihre stumme Bemerkung fuhr Ravenberg fort. »Doch das sei nur am Rande erwähnt. Das System hat ... kaum eine Bedeutung für die Andragon-Kantone. Vielmehr geht es darum, was in der nexusferneren Gegend von meinen vertrauten Spähern bei dem Portal registriert wurde. Es wurden ... interessante Energiemuster entdeckt. Meine Vertrauten und ich gehen in der Annahme, dass es sich um eine unergründete Intelligenz handeln könnte. Ich meine damit nicht die Zodiacs. Es könnte etwas ... anderes sein.
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