Spätestens jetzt hätte man die Polizei einschalten sollen, wenn man sich ernsthafte Sorgen gemacht und die Hoffnung gehabt hätte, noch irgendwelche Spuren finden zu können. Aber der Chef der Staatskanzlei, Jürgen Graus, ein ungehobeltes Bübchen-Gesicht, bei dem niemand so recht wusste, wie er zu diesem Amt gekommen war, scheute öffentliches Aufsehen. Als gebürtiger Rheinland-Pfälzer, der 14 Semester in Bonn verbracht und nicht minder lang und intensiv den Kölner, später auch Mainzer Karneval studiert hatte, wisse er aus Erfahrung, dass sich solche Fälle immer schon am Aschermittwoch, spätestens Donnerstag, in Wohlgefallen auflösten. Des Wessis Wille hatte wieder einmal auch das Himmelreich für seine Untergebenen zu sein, auch wenn sie sich mittlerweile sehr ernsthafte Sorgen machten.
Freitag, 27. Februar
Erst am Freitag gegen 16 Uhr, als fast alle Bediensteten das Haus schon verlassen hatten, fand sich Graus schließlich bereit, die Polizei zu informieren. Dies geschah letztlich vor allem auf Drängen seiner engsten Mitarbeiter, die fürchteten, das Verschwinden einer Angestellten der Staatskanzlei könne unkontrolliert und womöglich reißerisch kommentiert an die Öffentlichkeit dringen.
Von Graus instruiert, ließ es die Polizei gemächlich angehen. Erst recherchierte man ebenso diskret wie vergeblich im Bekannten- und offenbar nicht vorhandenen Verwandtenkreis der Verschwundenen, dann klapperte man ebenso vergeblich die Krankenhäuser ab. Zu einer öffentlichen Fahndung konnte man sich in der Polizeidirektion nicht entschließen, nachdem sich der Leitende Oberstaatsanwalt massiv eingeschaltet hatte.
Lea Rose, eine sportliche, junge, von ihren älteren Kollegen recht unverhohlen als karrieregeil apostrophierte Kriminalkommissarin, kam immerhin noch auf die Idee, die Bänder der Überwachungskameras auszuwerten, kurz bevor sie der Löschung anheimgefallen wären. Diese Bänder förderten nach mehrmaligem Durcharbeiten Verwirrendes zutage: Frau Dr. Edelmann schien die Staatskanzlei Weiberfastnacht nicht verlassen zu haben.
Dem Videomaterial war zu entnehmen, dass die promovierte Registratorin ihre Arbeitsstelle am Weiberfastnachtsmorgen um 8.12 Uhr betreten hatte. Sie hatte den Haupteingang an der Regierungsstraße 73 benutzt. Den beigen Mantel trug sie geöffnet. In der Hand hatte sie ihre Tasche und einen kleinen Plastikbeutel, in dem sich wohl ihr Kostüm befunden haben mochte. An der Pförtnerloge hatte sie ihren Büroschlüssel in Empfang genommen und ordnungsgemäß ihre Chip-Karte durchgezogen. Dies bestätigte auch ein Computerausdruck, der die An- und Abwesenheitszeiten registrierte. Es fehlte zwar eine korrekte „Gehen“-Buchung an jenem Tag, das war aber bislang niemandem aufgefallen, da den Teilnehmern an der Karnevalsveranstaltung ein pauschales Gehen um 16 Uhr angerechnet worden war.
Zwar konnten sich auch die Pförtner nicht daran erinnern, ob und schon gar wann Frau Dr. Edelmann Weiberfastnacht das Haus verlassen hatte. Aber auch das schien nicht sehr verwunderlich. Zum einen verfügte der Gebäudekomplex, im Karree um einen großen Innenhof gebaut, über vier Ein- und Ausgänge, zum anderen fühlten sich die Männer vom Wachschutz nur dafür verantwortlich, dass nichts und niemand Fremdes unbemerkt ins Gebäude kam. Was heraus ging oder getragen wurde, fiel nicht in ihren Verantwortungsbereich.
Soweit die Theorie. In der Praxis war es allerdings immer wieder bewundernswert, wie diese freundlichen Männer an der Pforte, obwohl hoffnungslos unterbezahlt, seit sie von Grausens Vorgänger Knapp zu einem privaten Wachdienst outgesourct worden waren, sich dennoch um alles kümmerten und über viele, oft allzu menschliche Dinge und Verwicklungen im Haus besser Bescheid wussten als der nicht gerade sonderlich dynamische Personalchef Mostrich.
Nein, die Pförtner hatten Frau Dr. Edelmann am besagten Abend nicht gehen sehen. Ihnen war nur aufgefallen, dass sie ihren Schlüssel nicht abgegeben hatte, was allerdings bei den Mitarbeitern häufiger vorkam, und dass die Registratur nachts nicht abgesperrt worden war, was schon ungewöhnlicher war, aber im Karnevalstaumel schon mal geschehen konnte.
Die Aussage der Pförtner deckte sich mit den Aufzeichnungen der Überwachungsanlage, mit der nicht nur alle Aus- und Eingänge lückenlos überwacht worden waren sondern auch die Straßen und Fußwege um das Gebäude. Nirgends war eine Spur von der Verschwundenen zu entdecken. Nach allen verfügbaren Informationen konnte Frau Dr. Edelmann das Gebäude nicht verlassen haben.
Dienstag, 3. März
Wohl oder übel musste Graus nun doch einer größeren Suchaktion zustimmen. Die Staatskanzlei mit ihren 237 Zimmern, Sälen und Kammern wurde vom Dachboden bis zum Gewölbekeller systemtisch durchkämmt. Jeder Winkel, jeder Schrank. Selbst die übergroße Kübelpflanze im Vorzimmer des Ministerpräsidenten Amsel musste sich ein vorsichtiges, wenngleich nicht ganz ernst gemeintes, Stochern im Erdreich gefallen lassen. Ein Suchhund kam zum Einsatz, aber nach inzwischen fast zwei Wochen fand dieser auch keine verwertbaren Spuren mehr. Ab und zu nahm die fast schwarze Schäferhündin zwar Witterung auf, führte aber immer wieder nur im Kreis oder in die Registratur oder in sonstige Räume, wo sich Dr. Edelmann häufiger aufgehalten hatte. Ein vom Suchhund mit besonderer Intensität verfolgte Spur endete in der Kantinenküche, wo gerade 115 Koteletts gebraten wurden.
Frau Dr. Edelmann jedoch blieb verschwunden. Die Durchsuchung ihrer kleinen Wohnung in Dachwig brachte ebenso wenig Erkenntnisse über ihren Verbleib wie der spärliche Inhalt ihres Schreibtisches oder ihr dunkelblauer Opel, der kurz darauf in der Meister-Eckehart-Straße gegenüber dem Ratsgymnasium gefunden wurde. Die Strafzettel an der Windschutzscheibe und Zeugenaussagen legten den Schluss nahe, dass der Wagen seit Weiberfastnacht nicht mehr bewegt worden war.
So sehr Graus und Regierungssprecher Cäsar auch um Diskretion bemüht waren, die Durchsuchung der Staatskanzlei mit vielen Polizeibeamten ließ sich nicht verheimlichen, zumal sie an einem Dienstag stattfand. Dienstags tagt jeweils das Kabinett; anschließend wird im Bürgersaal zur Pressekonferenz eingeladen.
An diesem Dienstag wurde der Presse vom Sozialminister der jährliche Verbraucherschutzbericht präsentiert. Aber natürlich fragten die Journalisten auch nach dem Grund der unübersehbaren Polizeipräsenz. Regierungssprecher Cäsar stellte sich unwissend. Er glaube, das sei wieder mal so eine dümmliche Bombendrohung, aber die Beamten hätten natürlich nichts gefunden und zögen schon wieder ab. Letzteres entsprach immerhin den erkennbaren Tatsachen, und da niemand so überzeugend die Unwahrheit sagen konnte wie Cäsar, bleib das Interesse der Medien gering und versiegte bereits am nächsten Tag völlig.
Andreas Stefani wird misstrauisch
Letztlich hätte das spurlose Verschwinden von Frau Dr. Edelmann als ungelöster Fall in die Statistik eingehen können, falls man überhaupt im klassischen Sinn von einem Fall reden wollte, wenn nicht im Dachgeschoss gegenüber der Staatskanzlei Andreas Stefani seine Wohnung gehabt hätte. Haus zum ersten Schweinskopf war in altertümlichen Lettern über der Haustür der Regierungsstraße 4 zu lesen. Es gehörte zu jenen unzähligen Gebäuden in Erfurt, die aus einer spätmittelalterlichen Zeit stammten, als die Häuser noch durch phantasievolle Namen, wie „Zum schwarzen Ross“, „Zum breiten Herd“, „Zur hohen Lilie“ oder „Zum goldenen Helm“ statt durch profane Hausnummern unterschieden wurden. Stefani hätte sich eine weniger ehrenrührige Adresse denken können, war allerdings den Verdacht nie los geworden, dass mit dem ersten Schweinskopf niemals die Bewohner seines Hauses gemeint waren, sondern es sich eher um eine reichlich unbotmäßige Anspielung auf den Residenten gegenüber gehandelt haben könnte.
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