„Verdammt, Ben. Wo hast du gesteckt? Ich habe wie ein Trottel am Flughafen auf dich gewartet.“
„Hallo Liem. Was ...“ Plötzlich fiel Ben die SMS ein, die er kurz vor seinem Abflug in Bangkok erhalten hatte. „Tut mir leid. Deine Nachricht ... Ich habe sie ganz vergessen.“
„Das hab´ ich gemerkt, Bruderherz! Komm, lass dich drücken.“ Ben genoss die Umarmung seines Adoptivbruders. Für einen kurzen Moment dachte Ben an ihr erstes Treffen, damals in den Straßen von Bangkok. Kaum zu glauben, was seitdem alles passiert war.
„Und?“, wollte Liem wissen. „Geht es dir besser?“ Ben wusste nicht genau, worauf die Frage zielte. Kurz nach dem Überfall auf den Mönch, hatte er seinen Bruder informiert, dass er länger als geplant in Bangkok bleiben würde.
„Wenn du den Überfall meinst, ist alles wieder okay.“ Ben deutete auf seine Rippen. „Aber mit Sport muss ich mich wohl zurückhalten.“
„Und sonst? Konntest du endlich mit allem abschließen?“ Ben spürte, wie es in seinem Innersten rumorte. Wie die Frage schon klang. Als sollte er eine unliebsame Akte zur Seite schieben.
„Hör zu Liem!“, Ben wollte sich nicht schon wieder mit seinem Bruder streiten. „Ich bin ziemlich erledigt. Der lange Flug, die Zeitumstellung. Können wir morgen reden?“
„Du weichst mir aus, Ben! Schon wieder. Du musst dich endlich davon frei machen. Wie lange willst du Lily noch nachtrauern? Merkst du nicht, wie du dich kaputt machst? Deine Tochter hätte das sicher nicht gewollt.“
„Red´ nicht so, als ob Lily tot wäre!“
„Aber sie ist es mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit!“ Einen Moment herrschte Stille. „Ben“, Liems Stimme wurde sanfter, „Lily ist seit zehn Jahren verschwunden. Niemand hat auch nur eine Spur von ihr gefunden. Es wird Zeit, das du der Realität ins Auge siehst.“ Liem wandte sich zur Tür. „Lass uns morgen beim Mittagessen darüber reden. Einverstanden?“ Ben nickte. „Wie immer um zwölf im Borchardt?“ Ben nickte abermals. Ohne ein weiteres Wort verließ Liem die Wohnung und Ben vernahm, wie die Tür ins Schloss fiel.
Eine unerträgliche Leere breitete sich in ihm aus. Er raffte sich auf und packte sein Gepäck aus. So kam er hoffentlich auf andere Gedanken. Dabei fiel ihm der Beutel in die Hände, den er von dem Mönch erhalten hatte. Ben löste den Knoten und blickte auf drei kleinen Ampullen, die eine gelbliche Flüssigkeit enthielten. Auf seine Frage hin, was diese mit seiner Tochter zu tun hatten, hatte sich der Mönch in Schweigen gehüllt. Er antwortete lediglich, dass Ben dies schon erkennen würde, wenn die Zeit dafür gekommen sei. Damit war für ihn das Thema erledigt. Ben hatte entgegnet, dass er an irgendwelchen Hokuspokus nicht glauben würde und den Beutel zurückgegeben. Umso überraschter war er gewesen, als er die Ampullen später in seinem Gepäck entdeckt hatte. Anfangs wollte er sie im Hotel lassen, aber eine innere Stimme riet Ben dazu, sie in seinen Koffer zu packen.
Vorsichtig nahm er eine Ampulle heraus und öffnete sie. Die Flüssigkeit war vollkommen geruchsfrei. Wieder kamen Ben die Worte des Mönchs in den Sinn: „Was ist Ihr größter Wunsch?“
Lily.
Ohne nachzudenken, stürzte Ben die Flüssigkeit hinunter. Was hatte er schon zu verlieren? Der Geschmack war angenehm. Ben glaubte, eine leichte Spur von Vanille zu erkennen. Er erwartete, dass sich das Zimmer drehen, die Wände verschieben oder farbenprächtige Halluzinationen auf ihn einstürzen würden. Aber nichts passierte. Nicht einmal ein Kribbeln in der Magengegend erinnerte ihn daran, dass er soeben eine Flüssigkeit zu sich genommen hatte, von der er nicht wusste, woraus sie bestand und vor allem, welche Wirkung sie hatte.
Enttäuscht packte Ben seinen Koffer weiter aus. Zehn Minuten später legte er sich aufs Bett. Der Jetlag überkam ihn und nur einen Lidschlag später war Ben in einen tiefen Schlaf gefallen.
Kapitel 2: Der Wanderer
Berlin, 26.Dezember 2004
„Ich bin soweit!“ Ben hörte die Stimme seiner Tochter und trat in den Flur, wo Lily ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trampelte. „Kann ich jetzt endlich gehen?“
„Und du willst nicht warten, bis Oma und Opa nachher kommen?“ Ben registrierte den Blick seiner Tochter, denn sie immer aufsetzte, wenn sie ihren Papa um den Finger wickeln wollte. Ein Blick, der auch diesmal seine Wirkung nicht verfehlte, denn nur zehn Sekunden später schloss Ben hinter ihr die Haustür. Er sah, wie Lily das Grundstück verließ und die Straße überquerte.
Sie hatte ein Bild für ihre Großeltern gemalt, das sie ihnen unbedingt geben wollte.
Ben stieg die Treppe zum Badezimmer hoch. Shannon stellte gerade die Dusche aus. Vorsichtig öffnete er die Tür und trat ein. Warmer Dampf umfing ihn.
„Du kommst ja wie gerufen.“ Shannon wickelte ein Handtuch um ihren Kopf. „Trocknest du mir den Rücken ab?“ Ben trat näher, nahm das Handtuch entgegen und fuhr seiner Frau sanft über den Rücken. „Ist Lily jetzt doch gegangen?“ Shannon drehte sich um und sah Ben in die Augen.
„Gerade eben. Du kennst doch deine Tochter.“
„Na dann ...“ Shannon schlang ihre Arme um Bens Hals, beugte sich vor und küsste ihn sanft. Stürmisch erwiderte er den Kuss, hob seine Frau hoch und trug sie ins Schlafzimmer.
Zwanzig Minuten später lagen sie erschöpft auf dem Bett. Das Telefon klingelte und gedankenversunken griff Ben nach dem Hörer.
„Ja?“
„Hallo Ben, ich bin´s, Jeffery.“ Ben erkannte die Stimme seines Schwiegervaters, der, obwohl schon seit einigen Jahren pensioniert, den Militärton nicht ablegen konnte. „Ich wollte nur wissen, wann wir nachher bei euch sein sollen.“
„So gegen eins. Ihr könnt zusammen mit Lily kommen.“
„Wieso mit Lily?“ Schlagartig saß Ben im Bett. „Ist sie nicht bei euch? Sie hat sich“, Ben schaute auf seine Uhr, „vor zwanzig Minuten auf den Weg gemacht.“
„Nein, Lily ist nicht hier! Wir wussten ja nicht einmal, dass sie kommen wollte.“
„Ich bin sofort bei euch.“ Ohne eine weitere Antwort seines Schwiegervaters abzuwarten, sprang Ben aus dem Bett.
„Was ist mit Lily?“ Shannons Stimme klang besorgt.
„Sie ist nicht bei deinen Eltern angekommen.“
Ben brauchte nicht lange zum Haus seiner Schwiegereltern. Die Straßen waren in den Vormittagsstunden dieses zweiten Weihnachtstages noch leer. Entweder bereiteten sich die Anwohner auf das Mittagessen vor oder genossen ein spätes Frühstück. Ben kam zumindest niemand entgegen, den er nach Lily fragen konnte. Shannon war zuhause geblieben, falls Lily dort auftauchen sollte. Er wollte gerade in den Vorgarten seiner Schwiegereltern eintreten, als er im Rinnstein etwas entdeckte.
Lilys Rucksack!
Ben hob ihn hoch, öffnete den Reißverschluss und sah, dass die Zeichnung, welche Lily für ihre Großeltern angefertigt hatte, noch dort war. Tränen stiegen Ben in die Augen. Er spürte, dass seiner Tochter etwas passiert war.
„Hast du Lily gefunden?“ Die schneidende Stimme seines Schwiegervaters ließ ihn zusammenzucken. Er hielt ihm den Rucksack entgegen. „Der lag vor eurem Gartentor.“
„Und Lily?“
„Keine Spur.“
„Komm rein, Ben! Ich informiere die Polizei.”
Etwa zehn Minuten später betrat ein älterer Kommissar das Haus seiner Schwiegereltern.
„Dieter, danke dass du sofort gekommen bist!“ Kommissar Dutzmann war ein Freund von Jeffery, auch wenn der Kontakt in den vergangenen Jahren eher spärlich gewesen war. Zumindest hatte Ben den Kommissar auf Familienfeiern nie gesehen. Von Shannons Erzählungen wusste er aber, dass sich Dutzmann und ihr Vater von früher kannten. Dieser hatte seine Karriere als Streifenpolizist bei der Berliner Polizei begonnen und war damals in die Ermittlungen involviert, die nach dem Anschlag auf eine Berliner Diskothek eingeleitet wurden. Jeffery leitete damals die Ermittlungen auf Seiten der Alliierten.
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