Klaus ist mit seiner Familie wieder nach Teneriffa geflogen, um die Feiertage dort zu verbringen. Ich sollte mitkommen, Elisabeth. Angeboten hat es mir unser Sohn. Vielleicht hat er's sogar ehrlich gemeint. Was weiß ich?
Aber was soll ich alter Bock auf Teneriffa? Völlig fehl am Platz käme ich mir vor. Als fünftes Rad am Wagen würde ich mich fühlen.
Außerdem kann ich dich ja auch nicht allein lassen; gerade an Weihnachten nicht. Wer außer mir sollte dich am Heiligen Abend besuchen? Ich denke, es war besser so, dass ich nicht mitgeflogen bin."
Der alte Mann hatte seine Arbeit beendet. Alle Kerzen am Baum brannten und tauchten den Grabhügel in ein feierliches Licht. Irgendwo begannen Glocken zu läuten. Der alte Mann lauschte für einen Moment, nickte nachdenklich und trat zurück.
"Früher sind wir um diese Zeit gemeinsam zur Christmette gegangen", erinnerte er sich. "Du, unser Sohn und ich. Anschließend haben wir dann beschert und unter dem Christbaum all die schönen Weihnachtslieder gesungen." Der alte Mann kicherte. "Du konntest zwar nicht schön singen, Elisabeth, aber du tatest es mit einer Inbrunst und Andacht, die rührend war und die die schiefen Töne vergessen ließ.
Mein Gott, wie lange ist das her? Jahre? Jahrzehnte? Jahrhunderte? Geradeso kommt es mir vor.
Klaus hat inzwischen selbst Kinder. Vierzehn und zwölf sind sie mittlerweile, der Tommy und die Katrin. Wie du in deinen Mädchenjahren sieht die Kleine aus; und der Junge ein bisschen wie ich, behaupten die Leute.
Wahrscheinlich werden sie heute unter keinem Christbaum singen, unser Sohn, seine Frau und unsere Enkelkinder. Wer singt heutzutage noch selber? Man lässt singen; mit zweimal hundert Watt und in Stereo. Und vielleicht gibt es auf Teneriffa auch gar keinen Christbaum? Ich kenne die dortigen Bräuche nicht."
Der alte Mann trat zu einer Bank, die in der Nähe des Grabes stand, wischte mit der Hand den Schnee herunter und ließ sich nieder.
"Ich bleibe noch ein Weilchen bei dir", sagte er. "Was soll ich zu Hause? Vermissen tut mich eh keiner. Die Decke würde mir nur wieder auf den Kopf fallen. Sollen sie das Friedhofstor halt zuschließen. Mich stört das nicht. Ich bin auch im vergangenen Jahr über die Mauer geklettert. War zwar ganz schön anstrengend für meine steifen Knochen, aber geschafft habe ich es. Man wird halt nicht jünger, Elisabeth. Die Jahre gehen nun mal nicht spurlos an einem vorbei. Das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Ich wollte, ich könnte es; ein einziges Mal nur, Elisabeth, nur ein einziges Mal."
Es hatte wieder zu schneien begonnen. Wie Millionen kleiner Schmetterlinge tanzten die Flocken um den alten Mann herum. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, beobachtete, wie die Kerzen am Weihnachtsbäumchen langsam herunterbrannten, und lächelte versonnen vor sich hin.
"Komm mit", hörte er eine leise Stimme hinter sich, und er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer ihn ansprach. "Einen Wunsch darf ich dir heute erfüllen; einen einzigen nur, aber es ist dein größter. Schließe deine Augen, Kurt, und lass dich von mir in das Reich deiner Träume führen."
Und plötzlich war ein verzaubertes Singen um ihn her und erfüllte sein Herz mit einer Woge nie gekannten Glücks. Auf einer Wolke schien er schweben, die ihn emporhob und in ein weit, weit entferntes Land trug.
"Jetzt kannst du deine Augen wieder öffnen", sagte die Stimme. "Frohe Weihnachten, Kurt!"
In einer Straße mit zerbombten Häusern fand er sich wieder. Der Krieg war vor einem guten halben Jahr zu Ende gegangen. Einen zerschlissenen Wehrmachtsmantel trug er, die Reste seiner Uniform und Stiefel, die ihren Namen nicht mehr verdienten. Von vorn näherte sich ein Mädchen, schaute ihn mit gefurchter Stirn an und blieb, als es ihn zu erkennen schien, stehen.
"Kurt?", fragte sie zögernd. "Sind Sie... bist du nicht der Kurt Johannsen?"
"Der bin ich in der Tat", erwiderte er. "Und Sie sind... du bist die Elisabeth Wegener, gelt?"
Das Mädchen nickte. "Ja", sagte sie. "Das, was von mir übrig geblieben ist. Besonders attraktiv ist das weiß Gott nicht mehr."
"Kommt es darauf an?", entgegnete er leise. "Die Hauptsache ist doch, dass wir überlebt haben. Irgendwie wird es schon weitergehen."
"Diese Zuversicht habe ich auch", sagte sie. "Frohe Weihnachten übrigens."
"Weihnachten?" Kurt sah das Mädchen verwirrt an. "Heute ist Weihnachten? Du, daran habe ich wirklich nicht gedacht. In einer Zeit wie der jetzigen vergisst man die Zeit."
"Woher kommst du?", erkundigte sich Elisabeth. "Und wohin willst du?"
"Ich komme aus amerikanischer Gefangenschaft", erklärte Kurt, "und suche meine Eltern. Hast du eine Ahnung, was aus ihnen geworden ist? Von unserem Haus ist ja nicht viel übrig geblieben; genau wie von eurem nebenan."
Elisabeth senkte den Kopf. "Von unseren Eltern auch nicht", wisperte sie. "Du und ich - wir sind die beiden letzten unserer Familien. Tut mir leid, dir das gerade an Weihnachten mitteilen zu müssen."
"Ich habe es geahnt, als ich von den schweren Angriffen auf unsere Stadt hörte", sagte Kurt müde. "Aber ein Funke Hoffnung bleibt wohl immer in einem."
"Was wirst du jetzt tun, Kurt?", wollte das Mädchen wissen.
Der junge Mann zuckte die Achseln.
"Wenn du willst, kannst du mit zu mir kommen", schlug Elisabeth vor. "Ich habe es mir in einem Keller, der heil geblieben ist, einigermaßen wohnlich eingerichtet. Du bist gerne eingeladen. Luxus darfst du natürlich keinen erwarten, aber besser als nichts ist es schon. Sogar eine Tasse Kaffee kann ich dir anbieten."
"Also doch Luxus", lächelte Kurt. "Ich nehme deine Einladung dankend an. Wohin sollte ich auch sonst gehen?"
Es war ein winziger Keller, in dem Elisabeth hauste. Vor die Fenster hatte sie Bretter genagelt und die Ritze mit Lumpen abgedichtet, um so der Kälte wenigstens ein bisschen Herr zu werden, die selbst ein mit Holz befeuerter alter Küchenherd nicht abhalten konnte.
Eingerichtet war der Keller mit Überresten von Möbeln, die sie auf den umliegenden Trümmergrundstücken zusammengesucht hatte. Sogar ein Sofa, das ihr offensichtlich als Bett diente, hatte sie herbeigeschleift. Beleuchtet wurde der Raum von Kerzenstummeln, da die Glühbirne, die an der Decke baumelte, gestern - wie sie erzählte - ihren Geist aufgegeben hatte.
Und es gab sogar einen kleinen Tannenbaum, den sie in einer Ecke auf einer Kiste aufgebaut und mit den unmöglichsten Dingen wie Papierschnitzeln, Metallspänen und Glassplittern geschmückt hatte.
"Mehr kann ich dir leider nicht bieten", entschuldigte sie sich, nachdem sie ihn eintreten und auf dem Sofa hatte Platz nehmen lassen.
"Es ist mehr, als ich erwartet hatte", erwiderte er. "Mein Gott, Elisabeth, was ist bloß aus uns geworden?"
"Ein Volk von Maulwürfen, das unter der Erde sein bisschen Leben zu erhalten sucht", sagte sie. "Wir ernten, was wir gesät haben. Aber lass uns jetzt nicht mehr davon sprechen. Es ist Weihnachten, und ich bin froh, dass du bei mir bist. Weißt du eigentlich, dass ich einmal sehr in dich verliebt war? Vierzehn oder fünfzehn muss ich damals wohl gewesen sein."
"Nein, davon weiß ich nichts", bekannte er.
"Kein Wunder", lächelte sie. "Als flotter Soldat hattest du natürlich andere Interessen als mich junges, unterentwickeltes Ding ohne Busen und so."
"...aus dem inzwischen eine bezaubernde junge Dame geworden ist", ergänzte er und bemerkte, wie sie bis zu den Haarwurzeln errötete.
"Ich möchte wissen, was an mir noch bezaubernd sein soll", meinte sie. "Als Vogelscheuche könnte man mich in einen Baum setzen. Kein Spatz würde es wagen, auch nur eine Kirsche zu stehlen."
"Nun untertreibe mal nicht", sagte er. "Die Fassade ist zwar leicht lädiert, aber man kann immer noch erkennen, was daraus werden wird, wenn sie erst einmal wieder renoviert worden ist."
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