Das Telefon klingelte.
Kathrin war immer noch bei der Arbeit und klang genauso munter wie am Morgen. So - sagte sie - der Vortrag, den sie morgen Nachmittag halten werde, sei konzipiert. Ebenso ein Zimmer für zwei fürs ganze Wochenende gebucht, Nähe Potsdamer Platz. Sie freue sich auf ihn. Sie habe viele Projekte im Kopf, die sie mit ihm besprechen müsse. Und eine ganz bestimmte Frage - aber die werde sie erst stellen, wenn sie Zeit für einander hätten.
Benito versicherte, dass er sich ebenfalls freue, sie zu treffen. Und er sei natürlich gespannt, was sie ihn fragen wolle. Heute sei er nicht dazu gekommen, sich auf die Konferenz vorzubereiten, das müsse er morgen während der Fahrt erledigen. Heute Abend wolle er noch ins Krankenhaus. Eine alte Freundin besuchen – das habe er ihrem Vater versprochen.
Ob sie eifersüchtig werden müsse, wollte Kathrin wissen.
Unfug - er habe gerade die Jahre gezählt, die sie sich nicht gesehen hätten: wahrscheinlich ein Vierteljahrhundert.
Da sei sie dreizehn gewesen und noch bei den Pionieren. Aber so dringend könne der Krankenbesuch doch nicht sein, dass er nicht einmal zehn Minuten Zeit habe für seine Geliebte.
Natürlich nicht. Er wisse eigentlich gar nicht, warum Frauke ausgerechnet nach ihm gefragt habe. Ihr Vater sei ein alter Gewerkschafter, mit dem er vor Urzeiten mal etwas zu tun gehabt hätte.
Aha - verstehe, hakte Kathrin ein: einer aus deiner Sturm- und Kampfzeit.
Sozusagen.
Er wollte nicht darüber reden, jedenfalls nicht jetzt. Nicht in dieser Weise. Vielleicht am Wochenende. Sie war sofort einverstanden und entschuldigte sich, dass sie ihn mit ihren Gedanken und Visionen überfallen habe.
Sie tauschten telefonisch Küsse aus und legten auf.
Benito ließ alles stehen und liegen, nahm den Autoschlüssel und verließ seine Wohnung. Als er die Treppe hinunter tippelte, fiel ihm ein, dass er jetzt den schwer erkämpften Parkplatz aufgeben müsste. Großstadt-Schicksal.
Vor der Tür zur Station zögerte er. Links vom Eingang saßen in einem schmucklosen unbeleuchteten Kabinett drei Raucher, zwei Frauen, ein Mann, alle in Morgenmänteln. Sie unterhielten sich und qualmten vor sich hin. Dass man so nah an einer Krebsstation noch rauchen durfte!
Er wurde von der verschlossenen Tür aufgehalten und las: Keine Besuche nach 20 Uhr. Es war halb neun, also eigentlich zu spät. Durch die Glasfront konnte er den langen Gang übersehen, von dem rechts und links Krankenzimmer abgingen. Nicht weit entfernt betrat eine Krankenschwester den Flur. Er klopfte. Die Schwester schaute unwillig zu ihm zurück, kam dann mit unfreundlicher Miene zur Tür. Sie öffnete nur einen Spaltbreit und teilte ihm mit, die Besuchszeit sei leider vorbei. Er wolle nur kurz zu Frau Tiemann, nur etwas abgeben, sagte er. Wie sein Name sei. Er nannte ihn und die Schwester überlegte einen Moment; dann wollte sie wissen, ob er der Bruder oder ein naher Angehöriger sei. Als er verneinte, schüttelte sie den Kopf - Frau Tiemann könne leider keinen Besuch empfangen. Sie zog die Tür zu, aber Benito hatte seinen Fuß dazwischen gestellt, so dass sie nicht schließen konnte. Die Schwester wurde ärgerlich: der Herr müsse verstehen, die Patientin sei zu schwach und brauche ihre Ruhe. Doch er ließ sich nicht abwimmeln. Er wolle nur ganz kurz die Blumen überreichen und werde gleich wieder verschwinden. Die Schwester bot an, ihm die Blumen abzunehmen, aber so wollte er sich nicht abspeisen lassen. Der Besuch sei fest mit ihrem Vater vereinbart. Und: Frau Tiemann habe ausdrücklich darum gebeten.
Die Schwester wurde von hinten gerufen. Moment, sagte sie, stieß Benito energisch zurück und schloss die Tür. Er sah sie den Flur hinunter auf eine Kollegin zugehen, die mit einem Rolltisch unterwegs war, um Medikamente für die Nacht auszuteilen. Die beiden sprachen miteinander und schauten noch einmal kurz zu ihm herüber, bevor sie nach verschiedenen Seiten in Krankenzimmern verschwanden.
Er stand vor der verschlossenen Tür und starrte auf die Blumen - Nelken - die er noch eingepackt in der Hand hielt. Im letzten Moment, als er unten im Foyer an einem Blumenkiosk vorbei gekommen war, hatte er sie erstanden. Dabei hatte er noch Glück gehabt, denn man war bereits dabei gewesen, die Auslagen zum Feierabend einzuräumen. Peinlich, dass ihm vorher nicht in den Sinn gekommen war, Frauke etwas mitzubringen.
Früher hatte Jutta auf solche Dinge geachtet.
Ein junger Mann öffnete die Tür und ließ ihn ein. Ausnahmsweise dürfe er noch herein, für höchstens zehn Minuten. Benito bedankte sich und folgte dem Pfleger zu einem Zimmer direkt gegenüber dem Stationsraum. Vor der Tür nahm er rasch das Papier von seinem Strauß ab, und hinter dem jungen Mann, der ihn kurz ankündigte, um sich sofort wieder zurückzuziehen, betrat er das Zimmer.
Auf dem Bett lag vor ihm flach unter einer weißen Decke eine blasse Person mit schütterem Haar, die über Kabel und Schläuche mit Apparaten rechts und links verbunden war. Das Gesicht wirkte aufgedunsen, vor allem irritierte das spärlich dünne Haar. Nur mit Mühe gelang es ihm, in dieser Person Frauke Tiemann wiederzuerkennen.
Hallo, Benni, sagte eine schwache Stimme. Er solle nicht so erschreckt gucken - sie sei es trotzdem. Benito entschuldigte sich - er habe sie nicht gleich erkannt. Er wusste nicht, ob er ihr die Hand reichen sollte oder ob das zu anstrengend für sie wäre. Er hielt den Blumenstrauß hoch: Ich habe dir ein paar Blümchen mitgebracht.
Sie bedankte sich und sagte etwas, das Benito erst im Nachhall verstand. Demnach sollte er die Blumen auf die Fensterbank in eine Vase stellen. Er war froh, für einen Augenblick beschäftigt zu sein. Er füllte die Vase mit Wasser, schob vorsichtig die langen Stiele hinein und stellte den Strauß so gegen das Fenster ab, dass er nicht umfallen konnte.
Sie hatte ihn dabei beobachtet und forderte ihn jetzt auf, sich auf das Bett zu setzen. Er zögerte. Nein, er bleibe lieber stehen, er sitze sowieso den ganzen Tag. Er stellte sich ans Fußende und schaute ihr, gestützt auf das Eisenrohr des Bettgestells, entgegen.
Das sei eine schöne Überraschung, sagte sie mit ihrer matten Stimme, denn eigentlich habe sich ihr Bruder für heute angekündigt, aber der habe es wohl wieder nicht geschafft.
Benito erzählte, dass man ihn nicht zu ihr lassen wollte.
Ja, sie hätten extra angefragt. Die würden sich hier viel zu besorgt anstellen. Sie sei im Augenblick etwas schwach von der Therapie.
Sie bemerkte, dass er von einem Bein auf das andere trat, und forderte ihn auf, sich wenigstens einen Stuhl zu holen, wenn er ihr schon nicht nahe kommen möge.
Nun war er doch bereit, auf ihrem Bett Platz zu nehmen. Er setzte sich vorsichtig mit einer Pobacke auf die Bettkante, wobei er sich ein wenig nach links drehen musste, um sie ansehen zu können. Er räusperte sich, suchte nach Worten. Er sei überrascht gewesen, als Wolfgang ihn gestern Abend angerufen habe, sagte er.
Sie erwiderte nichts und schien durch ihn hindurch zu sehen, als ob sie seine Anwesenheit vergessen hätte. Schließlich sagte sie regungslos: Ich habe Papa gebeten, dich ausfindig zu machen.
Benito fasste sich an den Kopf. Natürlich - er habe sich noch gar nicht klar gemacht, dass sie seine Adresse nicht mehr kannten.
Sie lächelte mühsam und erkundigte sich, wie es ihm gehe und ob er immer noch aktiv sei. Er bewegte seinen Kopf nach rechts und nach links und hob die Schultern - das komme ganz darauf an, wie man das sehe.
Weißt du noch, wie wir an der Nordsee gezeltet haben - in Loikenhusen? fragte sie unvermittelt.
Er legte die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf. Nein, daran könne er sich leider nicht mehr erinnern.
Das sei ihr gerade so eingefallen. Sie starrte wieder in den Raum hinein. Ihr Zelt habe gleich hinter dem Deich gestanden - sie lachte - und immer wenn sie baden wollten, hätten sie einen Kilometer weit nach draußen gehen müssen. Das sei nur bei Ebbe möglich gewesen.
Читать дальше