Meine Beziehung zum Fußball war immer schon eine sehr besondere. Ich kann mich an keine längere Periode meines Lebens erinnern, während der ich nicht Fußball gespielt oder geschaut habe. Von Kindesbeinen an kickte ich, sah mir am Samstagnachmittag die Bundesligakonferenz an und diskutierte auf dem Schulhof über die schönste Nebensache der Welt. In den Sommerferien verging kein Tag, an dem ich nicht meinen Jungs zum Bolzplatz gezogen wäre und von morgens bis abends gekickt hätte. Wir waren die Messis und Ronaldos unserer Stadt, in jüngeren Jahren vielleicht noch die Ballacks, Beckhams und Zidanes, aber kein Tag verging ohne Lederkontakt, egal welches Wetter draußen war. Ich erinnere mich an eine ganz besonders intensive Schlacht, in einem prasselnden Gewitterregen, aus der meine Mannschaft als knapper Sieger hervorging. Auch heute noch spiele ich Fußball. Mein letztes Jahr in der Jugend neigt sich langsam dem Ende entgegen, aber wie alles im Leben ist auch der Fußball mit mir älter geworden und die epischen Schlachten auf dem Bolzplatz sind vorbei. Es war eine herrliche Zeit mit der einzigen Sorge, die Schmach einer Niederlage zu kassieren, was gleichbedeutend mit Unehrenhaftigkeit war, aber wenn ich daran zurückdenke, war es die wohl mithin glücklichste Zeit meiner Kindheit. Und rückblickend betrachtet bin ich sehr froh, ein Teil dieses Bolzplatzgefühls gewesen zu sein. Ich war und bin kein professioneller Kicker. Ich spiele für mein Leben gern, aber ich werde nie über den Status des Amateurs hinauskommen und irgendwie ist das einem auch mit dreizehn schon klar, aber auf diesem Schotterplatz mit den Toren ohne Netze und den Dornen dahinter, aus denen der Spieler, der den Ball weggeschossen hatte, ihn auch wieder holen musste, weil wie immer der „Schütze läuft“. Auf diesem Platz waren wir unsere eigenen Idole und Stars. Ich hoffe, dass dieses Gefühl für die, die noch kommen, bestehen bleibt, denn das gönne ich jedem, der schon einmal gegen einen Ball getreten hat und mir würde was fehlen, wenn ich mir hier jetzt darüber keine Gedanken machen könnte.
Seit der Grundschule war ich glühender Anhänger des FC Bayern, hatte es aber noch nie geschafft ins Stadion zu gehen, weil es immer eine Riesenentfernung nach München war und Karten für die Allianz Arena auch schwer zu bekommen sind. Ich verfolge jedes Spiel und bin auch von Herzen Bayern-Fan, aber wenn ich sage, dass ich mir meinen Verein nicht so richtig aussuchen konnte, dann steckt da wohl schon ein bisschen Wahrheit drin. Sowohl mein Vater als auch mein Opa und mein Onkel waren ebenfalls Anhänger der Münchner und somit wurde mir das Mia san Mia quasi mit der Muttermilch eingeflößt. Später sollte noch eine besondere Vorliebe zur Stadt entstehen, die mich bis heute prägt und begleitet. Zum Geburtstag bekam ich von meinen Eltern einmal ein komplettes Wochenende in München geschenkt, inklusive zweier Übernachtungen im Hotel Kempinski und Karten für ein Spiel der Bayern in der Allianz Arena. Es wurde langsam Frühling und der Wetterbericht für dieses Wochenende sah extrem gut aus. In München war ich schon einmal gewesen, aber das fühlte sich Jahrzehnte entfernt an und richtig erinnern konnte ich mich nicht mehr an die Stadt. Aus rein sportlicher Sicht betrachtet, war es eine ernüchternde Saison und sollte auch noch viel schlimmer kommen. Wir schrieben nämlich das Jahr 2012 und der große FC Bayern sollte in allen drei Wettbewerben jeweils auf der Zielgerade scheitern. Unvergessen bleibt für mich der wohl bitterste Moment meines ganzen Fandaseins: Das Finale dahoam 2012 als der FC Bayern im eigenen Stadion die Chance hatte, die Champions-League, den renommiertesten Klubwettbewerb der ganzen Welt zu gewinnen - als erstes deutsches Team seit 2001. Neunzig Minuten lang war man drückend überlegen und schaffte es schließlich durch Thomas Müller kurz vor Schluss in Führung zu gehen. Der lang ersehnte Triumph nachdem man eine Woche zuvor das Pokalfinale gegen den Rivalen Borussia Dortmund verloren hatte und zwei Wochen nachdem ebenfalls Borussia Dortmund die zweite Meisterschaft in Folge feiern konnte und Bayern auf Platz zwei in der Bundesliga verwies. Ich erinnere mich an den 19. Mai als wäre es gestern gewesen und noch heute zieht sich mein Magen zusammen, wenn ich an diese Nacht denke. Ich war mit Konstantin, den ich schon seit der Wiege kannte und der wie auch ich ein ebenso glühender Anhänger des Rekordmeisters war, mittags schon ein bisschen Kicken gegangen, um mich auf den Abend einzustimmen. Die Ausgangssituation war eindeutig: Unser FC Bayern war favorisiert, da beim Gegner aus England, dem FC Chelsea, wichtige Stammkräfte wie beispielsweise Abwehrchef John Terry aufgrund von Sperren fehlten. Für uns war klar, dass nur durch einen Triumph in der Königsklasse die Schmach, in zwei Wettbewerben vom BVB demontiert worden zu sein, wettzumachen war. Außerdem verbreitete die Champions League eine so eigene und spezielle Atmosphäre, dass uns dieser Wettbewerb schon von Kindesbeinen an elektrisiert hatte. Hinzu kam natürlich noch der Umstand, dass der FC Bayern die Möglichkeit hatte in seinem eigenen Stadion, in seinem Wohnzimmer, den Triumph zu feiern - und das sollte doch eine Extraportion Motivation frei machen, wenn das überhaupt nötig ist in so einem Spiel. Während drinnen die Vorberichterstattung lief und sich verschiedene Experten, wie beispielsweise Bayern-Legende Franz Beckenbauer, deren Äußerungen in der Vorberichterstattung allesamt sehr optimistisch für unseren FCB ausfielen, grillten wir bei meinem Kumpel im Garten und tranken Radler. Während die Sonne langsam unterging und die Mannschaften endlich aufs Feld liefen, konnte ich mich vor Aufregung kaum noch zurückhalten. Der brutzelnde Grill, die sommerliche Atmosphäre, das alles hatte etwas Besonders an sich und es fühlte sich in diesem Moment so an, als würde es eine magische und unvergessliche Nacht werden. Wurde es auch. Aber in diesem Moment lag das was noch kommen würde weit außerhalb meiner Vorstellungskraft und selbst wenn ich heute darüber nachdenke, kann ich immer noch nicht begreifen, dass es wirklich so abgelaufen ist. Die Bayern waren von Beginn an klar überlegen und vergaben klarste Chancen. Mario Gomez, der Inbegriff eines Stoßstürmers und eiskalten Torjägers, vergab klarste Tormöglichkeiten kläglich. Die Taktik von Chelsea war auch nicht schwer zu durchschauen. Solange wie möglich ein 0:0 halten und dann irgendwie vorne Didier Drogba, den Stoßstürmer von der Elfenbeinküste, einsetzen. Drogba besaß eine unfassbare Physis und konnte aus allen Lagen Tore erzielen. Wenn ich ehrlich bin, konnte ich mir nach der ersten Halbzeit nicht vorstellen, dass an diesem Abend irgendetwas schiefgehen konnte. Es war eine sternenklare Nacht, es roch nach Sommer, die Bayern waren klar überlegen, Chelsea hatte nicht den Hauch einer Chance, Bayern spielte im eigenen Stadion und der einzige Spieler der Blues vor dem ich wirklichen Respekt hatte, verbreitete vorne bisher noch kein Fünkchen Torgefährlichkeit. Dennoch mussten wir bis zur 83. Minute warten, ehe Thomas Müller, der Urbayer, uns erlöste und den FCB rechtmäßig in Führung brachte. Wir schrieen auf, rannten in den Garten, jubelten, jauchzten unsere Freude hinaus, umarmten uns und hüpften im Kreis. Als wir wieder reingingen, konnte ich mich nicht hinsetzen, ich war viel zu nervös und lehnte mich deshalb an die Tür, um von dort den Rest des Spiels zu verfolgen. Ich ging auf und ab, nuckelte hin und wieder an meinem Bier, während mein Kumpel mit seinem Bein wippend auf der Couch saß und stoisch in den Fernseher blickte. Innerlich bereitete ich mich schon auf die Siegesfeier vor und versuchte zu begreifen, was für ein wahnsinniger Erfolg das war, den wir da heute feiern würden und wie glücklich mich das machen würde, doch in diesem Moment konnte ich das noch nicht realisieren. Mein Verein würde gewinnen, daran gab es keinen Zweifel, aber das Ausmaß war mir noch nicht klar und so beschäftigte ich mich eher damit als über mögliche Wendungen im Spiel nachzudenken. Zu dominant war man heute aufgetreten. Zu schwach und ideenlos schien der FC Chelsea an diesem Abend. Um 23.31 Uhr bekamen die Blues ihren ersten Eckball in der Partie. Bayern hatte davor sechzehn Eckbälle ohne Erfolg ausgeführt. Zwei Minuten vor Ende der Partie sehe ich, wie der ausführende Schütze Juan Mata an- und gleichzeitig Didier Drogba ohne Gegenspieler in den Sechzehner läuft. Didier Drogba, vier Jahre zuvor im Champions League Finale mit Rot vom Platz geflogen, das ganze Spiel nicht zu sehen, hatte wahrscheinlich seitdem nur auf diesen einen Moment gewartet. Er wuchtete den Ball mit einer Gnadenlosigkeit unter die Latte, die mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Ich hatte immer Leute von einer lauten Stille reden hören. Jetzt wusste ich, was damit gemeint war. In der AllianzArena hörte man die Blues-Anhänger, Galaxien entfernt jubeln. Im Wohnzimmer der Baumgartens hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Konstantin blickte weiter stoisch in den Fernseher, hatte aber aufgehört mit dem Bein zu wippen. Ich bemerkte, dass mein Mund leicht und ungläubig geöffnet war. Es ging in die Verlängerung. Hatte ich mich vor drei Minuten noch damit beschäftigt, wie man solch einen Triumph angemessen feierte, war jetzt zum ersten Mal an diesem Abend der Zeitpunkt gekommen, an dem ich zu zweifeln begann. Und das ist kein schönes Gefühl. Die fünfzehn Minuten Verlängerung waren mit die längsten meines Lebens und je mehr Zeit verstrich, umso nervöser und unsicherer wurde ich. Dieses Gefühl schien sich kurz in Luft auszulösen, als Pedro Proenca, der portugiesische Referee, Elfmeter für die Bayern gab. Das Finale dahoam schien doch noch einmal gerettet zu werden. Es war ein klarer Elfmeter, da gab es keinen Zweifel und Konstantin hatte zum ersten Mal seit dem Führungstreffer durch Thomas Müller, der sich mittlerweile Jahrhunderte entfernt anfühlte, seine Sitzposition verlassen und stand nun mit hinter dem Kopf gefalteten Händen vor dem Sofa. „Nicht Robben, nicht Robben“, murmelte er immer wieder vor sich hin und ich wusste sofort was er meinte. Arjen Robben, wichtiger Bestandteil der Bayern-Elf hatte im entscheidenden Spiel der Rückrunde in Dortmund einen wichtigen Elfmeter für die Bayern verschossen. Auch damals stand das Spiel auf der Kippe und hätte Robben getroffen, wäre die Meisterschaft vielleicht ganz anders ausgegangen. Aber das zählte jetzt nicht mehr. Bei seinem Anlauf hielt ich den Atem an. Damals hatte er - vom Schützen aus gesehen - nach rechts unten gezielt. Das war der letzte Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, ehe die Nummer zehn gegen die Kugel trat. Wieder rechts unten. Cech, Keeper der Blues, hatte das Eck - und hielt den Ball fest. Ich ging raus in den Garten und ließ einen Verzweiflungsschrei hören. Als ich zurückkam, stand Konstantin immer noch unverändert vor dem Sofa und fixierte die Decke. War ich mir vor einer Viertelstunde noch sicher, dass nichts mehr schiefgehen konnte, hatte ich jetzt das Gefühl, dass gar nichts mehr für meine Mannschaft sprach. Und das Zweifeln war wieder da. Und das Zweifeln lässt dich nicht einfach nur wissen, dass es schlecht ausgehen wird. In irgendeinem Teil deines Gehirns lässt es noch ein Fünkchen Resthoffnung, der sich nicht erfüllen wird, aber der, wenn es endgültig vorbei ist, dir den letzten Rest gibt. Es kam wie es kommen musste: Showdown im Elfmeterschießen. Nachdem Schweinsteiger, ausgerechnet Schweinsteiger, der im Halbfinale noch den entscheidenden Elfmeter gegen Real Madrid, gegen die Königlichen, eiskalt verwandelt hatte, die Nerven versagten, musste der folgende Schütze der Londoner treffen, dann hätte Chelsea die Champions League 2012 gewonnen. Ich sah es beim Anlauf in Didiers Augen, dass er sich das nicht nehmen lassen würde. Vier Jahre lang hatte er gewartet. Und nun würde er, wie ein Skorpion zustechen, allen Bayern mitten ins Herz. Seinen Jubellauf durch die Allianz Arena sah ich nur noch verschwommen. An diesem Abend ist etwas in mir kaputtgegangen und es hat lange gedauert, bis ich diesen Moment wirklich aufarbeiten konnte. Das letzte Mal, dass ich so eine Leere nach einem Fußballspiel fühlte, war nach der WM 2006, als Deutschland im Halbfinale gegen Italien rausgeflogen ist, aber rückblickend kann ich jetzt dazu sagen, dass die Zeit für einen WM-Titel damals für Deutschland noch nicht reif und Italien wirklich die bessere Mannschaft war. Aber dieses Spiel, dieses Finale im eigenen Stadion, indem man solange dominant und überlegen war, solange den Ton angab, Chancen hatte, einen Elfmeter verschoss, kurz vor Schluss mit dem ersten Eckball den Ausgleich kassierte, dieses Spiel bereitete mir noch lange Magenschmerzen, die sich erst 2013 mit Wembley wirklich vollständig aufgelöst hatten.
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