„Was machst du so?“, fragte sie, „wollen wir einen Kaffee trinken gehen?“
„Ach, ich weiß nicht“, Susann wickelte die Telefonschnur ihres alten Apparats spielerisch um ihre langen Finger, „ich fühle mich heute nicht so sehr nach ausgehen.“
„Was ist nur los mit dir?“, wunderte sich Kathleen.
„Kannst du ein Geheimnis für dich bewahren?“, Susann senkte ihre Stimme, obwohl sie allein in ihrer Wohnung war und der Lärm der Straße und das Getöse ihrer Nachbarn wie üblich alle Geräusche, die sie machte, übertönte.
„Ich bin deine beste Freundin, dazu sind beste Freundinnen doch da!“, erwiderte Kathleen in einer Mischung aus empört und belustigt.
„Okay…weißt du…ich habe es dir nicht erzählt, aber erinnerst du dich noch an diesen Surftypen, Paul Lemontre, dem wir vor ein paar Wochen am Strand begegnet sind? Es stellte sich heraus, dass sein Sohn Aaron einer meiner Schützlinge in der ersten Klasse ist. Ich begegne ihm nun jeden Tag und, ja, wie soll ich sagen – er ist natürlich unglaublich machohaft mit seinem blöden riesigen Landrover, und, stell dir vor, einmal hat er sogar seinen Sohn auf dem Vordersitz mitfahren lassen!“ Susann hatte einen Kloß im Hals. Sie konnte es nicht sagen, aber Kathleen verstand sofort.
„Hast du dich etwa in ihn verliebt?“ Das „i“ zog Kathleen in die Länge, und sie kicherte dabei.
„Ach Kathleen, wir sind doch keine Schulmädchen mehr, ich verliebe mich doch nicht in einen Typen, den ich nur ein paar Mal gesehen habe. Das wäre ja so was von oberflächlich und außerdem ist er ja gar nicht mein Typ. Aber es gibt diese Anziehung…ich weiß auch nicht. Und jetzt will ich gar nicht mehr auf die Straße gehen, ich liege nur noch in meinem Bett und lese all diese Liebesromane!“
„Aber du musst rausgehen, Susann!“ Mit einem Male klang Kathleen sehr mütterlich, „Du bist jung und hübsch, lass uns was trinken gehen, okay?“
„Ich…“
Aber Kathleen duldete keinen Widerspruch. In den darauffolgenden Tagen achtete sie darauf, Susann oft zum Kaffeetrinken einzuladen oder mit ihr an den Strand zu fahren, allerdings nur in Küstenbereiche, wo die beiden sicher sein konnten, nicht Paul Lemontre zu begegnen.
Auch Paul musste zwangsweise seine Gedanken wieder auf andere Dinge als die Lehrerin seines Sohns lenken. Der wichtigste französische Kitesurf-Contest stand an, der „Open Sea“, und Paul trainierte nun mit seinem Freund Thomas fast täglich, um in Bestform zu sein und auch dieses Jahr wie bereits in den vergangenen Jahren die Goldmedaille nach Hause zu holen. Dann war es soweit: Der Strand war von bunten Zelten der Veranstalter und Sponsoren übersäht, neugieriges Publikum hatte sich an den Balustraden versammelt, der Wind hatte die perfekte Windstärke und Paul fühlte sich so stark und frei wie seit langem nicht mehr. Er hatte Aaron mit ins Sponsorenzelt genommen, wo dieser von kostenlosen Geschenken und allerlei Gimmicks überhäuft wurde und vom netten Servicepersonal versorgt, so dass er fast vergaß, seinem Vater zuzujubeln, als dieser endlich an der Reihe war. Paul steuerte mit seinem Kite in die Wellen hinaus und nahm bereits die erste größere Welle für eine spektakuläre Doppeldrehung um die eigene Achse. Das Publikum tobte. Von weitem konnte er sehen, wie Aaron stürmisch winkte und klatschte. Er hebelte sich zum Teil aus der Steuerungsleiste des Drachenschirms aus, um dann einhändig einen besonders hohen Sprung über zehn Sekunden zu schaffen. Zu guter Letzt und nach ein paar kleineren Tricks gelang es ihm auch noch, einen lupenreinen Sprung mit nur einem Fuß am Board zu machen: dies war im Normalfall nahezu unmöglich, da man das Board leicht verlieren konnte. Als er wieder am Strand ankam und sein Sohn ihm begeistert entgegengerannt kam, war klar: Auch dieses Jahr würde er wieder als Gewinner des Open Seas feststehen. Sponsoren mit ihren bunten VIP -Bändern um den Hals näherten sich ihm bereits wie Geier, lauernd darauf, ihm einen noch besseren Vertrag als letztes Jahr anzubieten, aber er winkte nur halbherzig ab. Später. Jetzt galt es, den Moment mit Aaron gemeinsam zu genießen.
Am Abend saßen er, Thomas und noch ein paar andere Kitesurfer-Kollegen etwas abseits vom Trubel bei einem Lagerfeuer an einem einsameren Küstenabschnitt zusammen. Dieses gemütliche Beisammensein, von denen die Sponsoren nicht erfahren sollten, war bereits Tradition geworden. Ein paar Kollegen organisierten im Vorfeld ein Catering-Zelt, das Bier, Cocktails und Häppchen bereitstellte, und wenn der offizielle Wettbewerb vorbei war, brachten sie alle etwas Feuerholz an die verabredete Stelle mit, machten ein Lagerfeuer, spielten Gitarre und ließen den Tag gemeinschaftlich ausklingen – kein Spur von Rivalität des vorangegangen Nachmittags war dann noch bei den Kitesurfern zu spüren. Paul hatte Aaron mitgebracht, der sich an kleinen Würstchen, die sie gemeinsam über dem Lagerfeuer gegrillt hatten, pappsatt gegessen hatte und nun selig in seinem Schoß einschlief; sein blondes Haar glänzte im Feuerschein. Paul telefonierte leise mit Aarons Babysitterin, damit sie ihn abholen kam. Gemeinsam brachten sie den immer noch schlafenden Aaron zu ihrem kleinen VW Golf und legten ihn zugedeckt auf die Rückbank. Paul strich seinem Sohn zum Abschied noch einmal durch sein wuscheliges Haar, doch dieser schlief felsenfest.
„Fahr vorsichtig“, sagte er zu dem jungen kaugummikauenden Mädchen und gab ihr ein Extra-Trinkgeld, „und schau so viel Fernsehen, wie du willst. Hauptsache, er putzt sich noch vorm Schlafengehen die Zähne.“
„Wird gemacht, Monsieur Lemontre“, das Mädchen grinste und stieg in ihren Wagen, „und, ehe ichs vergesse: Glückwunsch zum Sieg vorhin. Ich habs am Strand mitverfolgt: Sie sahen wirklich großartig aus!“
Paul nickte dem Mädchen zum Abschied zu, als sie wegfuhr, fuhr sich durch sein lockiges Haar, und ging dann wieder zurück zu den anderen. Die Jungs waren nun endgültig fertig mit ihrem Essen und hatten das Catering-Personal zu sich ans Lagerfeuer eingeladen. Unter ihnen erkannte Paul auch die hübsche Kellnerin, die ihm schon vor ein paar Wochen an der Strandbar aufgefallen war. Wieder lächelte sie ihm zu und schlug die Augen nieder. Der Feuerschein schmeichelte ihrem Gesicht – sie wirkte geheimnisvoller als an dem sonnigen Tag, an dem sie sich das erste Mal begegnet waren. „Hübschen Jungen hast du“, sagte sie mit ihrer angenehm rauen Stimme, „gibt’s da auch eine Mummy dazu?“
Paul rückte zu ihr auf, sodass sich ihre nackten Oberarme fast berührten. Er konnte ihr Parfüm riechen, ein Rosenduft, der vermischt war mit dem Geruch des Meeres und des Salzes. Sie roch unwiderstehlich für ihn.
Der erfolgreiche Tag und das Bier, das er bereits getrunken hatte, machten ihn leicht übermütig. Vorbei waren der Stress der letzten Woche, die Kämpfe mit Aaron und das unbestimmte Sehnen nach Mademoiselle Dumont. Einen kurzen Moment dachte er noch an ihre Meeresaugen, dann schien sie weit weg von ihm zu sein, während die Kellnerin sich jetzt fast an ihn kuschelte. Ihre Haut fühlte sich weich und warm an seinen muskulösen Oberarmen an. Er legte den Arm um sie und sie schmiegte sich an seine Schultern.
„Die Mummy ist ziemlich weit weg von uns“, flüsterte er ihr ins Ohr und sie kicherte, „wie heißt du?“
Langsam leerte sich der Strand. Nur noch wenige blieben an den glimmenden Resten des Lagerfeuers sitzen, die anderen hatten sich ein Taxi in die Stadt zurückbestellt, entweder um sich in ihre Wohnungen zurückzuziehen oder, so wie Roxy und Paul, einen der Clubs aufzusuchen, um die Nacht zum Tag zu machen. Roxy – so hieß sie also, die brünette Schöne vom Cateringservice. „Lass uns ins Seaside gehen, da sind jetzt auch Freunde von mir“, flüsterte sie ihm im Taxi zu, schon halb auf seinem Schoß sitzend, eines der langen Beine mit dem roten Highheel über seine Schenkel geschlagen. Er konnte nur nicken.
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