„Aber Aaron, den bereust du nicht?“
„Nein, natürlich nicht! Wie könnte ich ihn bereuen? Welcher Mann träumt nicht von einem kleinen Jungen, mit dem er basteln kann, mit dem er Fußballspielen oder ihm Surfen beibringen kann...“
Paul schaute auf die Wellen. Der Wind war merklich stärker geworden, die zuständigen Rettungsschwimmer waren gerade dabei eine neue Fahne aufzuziehen, die erhöhte Gefahr anzeigte. Mütter beeilten sich ihre kleinen Kinder aus dem Wasser zu bringen.
„Irgendwann werde ich Aaron da mit hinausnehmen. Aber noch ist er ein klein bisschen zu jung.“
„Wie alt ist er jetzt?“
„Sechs ist er geworden. Morgen bringt ihn Marie und dann werde ich ihn übermorgen zur Einschulung bringen.“
„Und er wird jetzt wirklich das Jahr bei dir wohnen?“
„Ja. Marie hat nun mal dieses Projekt in New York angeboten bekommen und es ist eine wunderbare Aufstiegschance für sie. Sie will Aaron da nicht mitnehmen, ein Jahr ein kompletter Szenenwechsel, dazu eine neue Sprache – das wäre zu viel für ihn, meint sie und ich stimme ihr da zu. Außerdem freue ich mich auf das Jahr mit ihm. Es wird ihm auch gut tun, mal mehr mit seinem Vater zu machen als immer nur an den Wochenenden.“
„Wie du meinst.“ Thomas streckte sich. „Aber ich glaube, du stellst dir das alles zu einfach vor.“
„Wir werden sehen“, antwortete Paul und sein Blick verlor sich wieder am Horizont, dort wo Himmel und Meer sich vermischten wie in der Farbpalette eines besonders begabten Malers.
Die Sonne war gerade über dem Meer aufgegangen und verlor sich in einem leichten morgendlichen Dunst von einigen Schleierwolken, die am Himmel entlang zogen. Ein prächtiges Farbspiel tauchte das Meer in ein geheimnisvolles Licht und ließ es verlockend glitzern. An einem solchen Morgen würde Paul normalerweise gleich nach dem Aufwachen an den Strand herunterfahren und, noch bevor andere Urlauber kamen, auf den Wellen reiten, zwischen Himmel und Wasser, dort, wo er sich am wohlsten fühlte, seine Sprünge üben. Es kribbelte in seinen Fingern unter der heißen Kaffeetasse, aber er bezwang sein Verlangen. Er musste Aaron aufwecken, er musste ihn zu seinem ersten Schultag bringen, kurz: er musste ein guter Daddy sein.
Gestern hatte Marie Aaron bei Paul abgegeben. Auch wenn Marie der Abschied merklich schwer von Aaron fiel, war die Unterhaltung zwischen ihr und Paul kurz und einsilbig ausgefallen. Marie war immer noch wütend auf Paul, dass er sie damals verlassen hatte und beschränkte die Unterhaltung mit ihm immer aufs Nötigste, wenn sie Aaron bei ihm ablieferte.
Marie sah fantastisch aus, die Geburt eines Kindes hatte keine Spuren an ihrem wohlgeformten Körper hinterlassen. Nur ihr Blick, der war seltsam hart geworden – es konnte jedoch auch daran liegen, dass Marie sich die eigentlich blonden Haaren schwarz gefärbt hatte, was sie blasser erschienen lies. Auch schminkte sie sich zu stark, wie Paul fand – es gab einen harten Kontrast zwischen ihrem puppenhaften Gesicht und den mausgrauen Kostümen, die sie aufgrund ihrer Arbeit als Managerin in einem international agierenden Unternehmen immer öfter trug. Fast gestresst hatte sie Aaron auf die Stirn geküsst, ihm „sei ein braver Junge“, zugeflüstert und dann Paul an die Hand gegeben, bevor sie mit ihrem silbrigen und sportlich geschnittenem BMW abgefahren war, wie immer zu schnell. Aaron schien allerdings das Neue seiner Lage nicht ganz zu begreifen – er verbrachte gerne die Tage bei seinem Daddy, allerdings war es für ihn immer Urlaub gewesen und nie hatte er in den Kinderhort gemusst. Daher war seine Verwunderung deutlich zu spüren, als Paul ihn sanft an der Schulter anfasste, um ihn aus seinen Jungenträumen zu wecken.
„Aaron komm, du musst aufstehen“, sagte er mit weicher Stimme, „hast du vergessen, dass heute dein erster Schultag ist?“
Es war ihm nicht leicht gefallen, den Sohn aus seinen Träumen zu reißen – auch er war als Kind gerne lange im Bett gelegen, obwohl er sonst schon immer den Tag gerne draußen gespielt und am Meer verbracht hatte. Das frühe Aufstehen war ihm erst mit der Zeit leichter gefallen. In diesem Verhalten erkannte er sich in Aaron wieder, der ansonsten eine interessante Mischung aus seiner Mutter und seinem Vater geworden war. Das blonde wuschelige Haar hatte er ganz klar von Marie, auch wenn sie es jetzt schwarz trug – die mandelfarbenen Augen waren dagegen Pauls. Paul konnte sich nie an der Schönheit des Jungen sattsehen, vor allem wenn dieser ruhig schlief, und er konnte nicht glauben, dass Marie und er so etwas Schönes zustande gebracht hatten. Aber sie waren auch sehr verliebt gewesen und erst schleichend, nach der Geburt von Paul, war ihr Glück gebröckelt. Für Marie war es nicht hinnehmbar gewesen, dass für Paul sein Sport das Ein und Alles war, auch wichtiger als seine Familie, wie es schien. Dabei konnte sie nicht ahnen, wie sehr Paul Aaron liebte – für ihn hätte er vielleicht sogar seinen Sport aufgegeben, allerdings war er froh, nun nicht mehr vor diese Entscheidung gestellt zu sein.
„Morgen“, murmelte Aaron verschlafen und streckte sich. Er blinzelte lange, bevor seine schönen braunen Augen neugierig in die Welt blickten, und richtete sich auf, „bekomme ich einen heißen Kakao, Daddy?“
„Alles, was du willst, mein Schatz.“ Paul ging wieder nach unten und bereitete das Frühstück für seinen Sohn vor. Dessen Kleider für den ersten Schultag – ein bunt geringeltes T-Shirt, eine blaue Strickjacke, dazu eine beige sommerliche Hose – hatte er ihm schon am Tag zuvor rausgelegt. „Brauchst du Hilfe beim Anziehen, Schatz?“, rief er nach oben, ein trotzig-kindliches „Natürlich nicht!“, antwortete ihm. Aaron war erst sechs Jahre alt, trotzdem bestand er auf seine Selbstständigkeit. Einen Moment später kam Aaron nach unten. Das T-Shirt hatte er verkehrt herum angezogen, Paul lachte und half ihm, es zu wenden. Dann bürstete er ihm kurz über die Haare, er tat es ungeschickt und Aaron jammerte ein wenig. In solchen Momenten wünschte sich Paul tatsächlich eine Frau oder zumindest eine Freundin, die diese Dinge sicherlich lieber tun würde als er. Aber so war es nun mal, wenn man Mummy und Daddy gleichzeitig sein musste. Dann servierte er Aaron den heißen Kakao, dazu Cornflakes und Milch. „Nimm einen Apfel, Aaron“, sagte er, aber Aaron schüttelte den Kopf. Paul seufzte, schnitt ihm den Apfel in mundgerechte Stücke und legte es zu dem Pausenbrot, das er für Aaron vorbereitet hatte.
Das Hupen und der Lärm der Autos ließ Susann wie öfter früh aufwachen. Sie hatte die Augusthitze nicht länger ertragen und schlief daher in der Nacht bei geöffnetem Fenster, obwohl sie an einer Hauptverkehrsstraße im Zentrum Guidels wohnte. Das Gebäude, in dem sich ihre Wohnung befand, war schön, aber äußerst renovierungsbedürftig und schnell stand Susann auf, um barfuß über die gesplitterten nackten Kacheln zu laufen, die Vorhänge zurückzuziehen und das Fenster zu schließen. Draußen tönte, trotz der frühen Uhrzeit, das alltägliche Leben der Kleinstadt.
Susann tappte weiter über den Fußboden hin zu ihrer Anrichte, auf dem neben geerbten Schmucksachen auch der große verzierte Spiegel stand, den sie ebenfalls von ihrer Großmutter geerbt hatte, nebst einem Foto der im letzten Herbst verstorbenen alten Dame. Susann hatte ihre Großmutter sehr gern gehabt, sie war nach dem tödlichen Autounfall ihrer Eltern bei ihr aufgewachsen. Die alte Dame hatte auch den klaren Blick und die Meeresaugen an ihre Enkelin weitervererbt, aber mit dem Schmuck und dem Spiegel waren das die einzigen Hinterlassenschaften gewesen. Die Großmutter hatte zeit ihres Lebens hart in einem Gemüse- und Obstladen gearbeitet – die Rente war trotzdem gering ausgefallen. Umso wichtiger war es ihr gewesen, der Enkelin eine gute Ausbildung zu ermöglichen, damit sie den Beruf ihrer Träume ergreifen konnte: Grundschullehrerin. „Danke, Granny“, flüsterte Susann wie jeden Morgen dem golden eingerahmten Bild zu und berührte die verblichene Fotografie sanft mit ihren Fingern. Dann galt es sich zu beeilen: Heute würde Susann ihre neue Klasse bekommen, 20 ABC-Schützen, und sie wollte trotz des allmorgendlichen Staus überpünktlich in der école elementaire de Guidel auftauchen. Sie zog sich ihr weißes leicht durchscheinendes Spitzennachthemd über den Kopf und lief zum Bad, um sich kurz kalt abzubrausen. Die Geräusche von der Straße drangen bis in die Dusche und sie machte das Radio an, um sich von dem morgendlichen Lärm abzulenken und noch kurz entspannen zu können.
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