Der öffentliche Diskurs bewegt sich brav im Fahrwasser der Symptome, nicht der Ursachen. Ursachenforschung oder wie es in meinem Fachbereich heißt, Ätiologie, gilt als Hoheitsgebiet der Weisen – niemand versteigt sich so schnell freiwillig auf diese wissenschaftlichen Gipfel, will er sich nicht Angriffen und Gegenbeispielen aussetzen.
Die Ätiologie bezüglich Kapitalismus ist hingegen seit Karl Marx bekannt. Er zeigte auf, wie Mehrwert produziert wird und was die hierfür notwendige Spaltung im Menschen bewirkt: Entfremdung. Diese Ätiologie der Mehrwerterschaffung ist heilig. Sie wird geschützt. Die Folge, Entfremdung, lief als spekulative Ansichtssache, die nicht ins Ressort dieser Wirtschaftsform, sondern in durch Wissenschaft begründete Bereiche fällt, nebenher. Menschen sagten: „Uns geht es gut und arbeiten muss jeder! “ Wissenschaftliche Ergebnisse aus Arbeit, Kultur und Folgen für den Menschen blieben auf der Symptomebene. Zusammenhänge zur Art und Weise, wie, wo und mit welchen Mitteln gearbeitet und produziert wurde, wurden nicht hergestellt. Entfremdung wurde ins Reich des Glaubens verschoben oder einer linken und verpönten Ideologie angehangen. Das wiederum war ein Fehler.
Denn Entfremdung ist keine Interpretation, sondern belegbares Faktum, das sich in Körper, Psyche und Seele in vielerlei Symptomen niederschlägt. „Körper“ wird nach cartesianischer Einteilung der Materie zugeordnet. „Psyche und Seele“ wurden in der Medizin in eine besondere Abteilung, die der Psychopathologie und damit dem Fachbereich der Psychiatrie und später zusätzlich dem der Psychotherapie und heute der psychologischen und medizinischen Psychotherapie, zugeordnet. Die Kluft zwischen einerseits Körper und andererseits Seele wurde mittels eines schmalen Bandes, der Psychosomatik, bis heute überbrückt.
Dieser Ansatz reicht nicht aus, um die tatsächliche Tiefe der Verwobenheit und Bezogenheit zwischen Körper, und hier mit allem, was dazu gehört, und Psyche, mit allen Funktionen von sinnlicher Wahrnehmung, über Realitätsbezug bis Widerstandsbildung als Schutz- und Abwehrmaßnahme, um die Seele zu sichern, zu erklären:
Der Schutz und der Erhalt der Seele hat oberste Priorität im Menschen. Wird die Seele angegriffen, läuft innerlich eine hierarchisch geordnete Reihe von Maßnahmen ab, die ihre Unversehrtheit sicherstellen soll. Diese hierarchisch geordnete Reihe von Maßnahmen ist jeweils unterschiedlich gewichtet, je nachdem welcher Art von Bedrohung ein Mensch ausgesetzt ist. Versagt die erste Stufe von Maßnahmen zur Bewältigung des Ereignisses „Anmache auf der Straße“, zu der Verhalten aufgezählt werden könnte, wie zum Beispiel 1. Ignorieren der „Anmache“, das heißt, Vorgang und Täter wird keine Bedeutung beigemessen, geht es weiter zur nächsten Stufe: 2. Verbale Abwehr. Der Täter lässt nicht locker, man setzt sich verbal zur Wehr. Dann reihen sich im ungünstigen Falle die nächsten Stufen des Abwehr aneinander: 3. Flucht oder körperliche Gegenwehr, wenn der Täter körperlich angreift. Wird das Opfer festgehalten, kann also nicht fliehen, setzt die nächste Stufe ein: 4. Verbale oder körperliche (einfache) Manipulation. Dies kann Überzeugungsarbeit sein, damit der Täter vom Vorhaben ablässt. 5. Hilft diese nicht, dann folgt eventuell Verführung, Bitten und Flehen. Wenn diese Maßnahmen auch nicht gelingen, folgt zum Beispiel 6. die Identifikation mit dem Angreifer (Stockholm-Syndrom). Die Psyche fängt an, feindliche Merkmale des Angreifers umzudeuten in gute und wohlwollende Merkmale. Wenn das auch nicht gelingt, kann 7. Isolation der Gefühle eintreten. Das Opfer fühlt nichts mehr, handelt wie unter Schock automatisch (Abspaltung der Gefühle). Ist ein Ereignis zu groß und mächtig, fühlt das Opfer Ohnmacht. Es hat dem Ereignis nichts entgegenzusetzen.
Die Abwehrmöglichkeiten wurden überrannt. Es bleibt nur noch rigorose Verbarrikadierung als Schutzmaßnahme übrig. Dieser 9. Vorgang wird als Traumatisierung bezeichnet. Der Mensch hat den Zugang zu seinen Gefühlen im Zuge des Eintretens des Ereignisses verloren. Eine Hülle des menschlichen Wesens bleibt übrig. In unterschiedlichem Ausmaß können noch normale Funktionen des Alltags ausgeführt werden. Das Leben des Menschen hat sich grundlegend verändert. Er fühlt sich wie abgestorben. Er hat den Sinn im Leben verloren – den, den es für ihn einmal hatte.
Zuwenig beachtet – und das liegt an der Spaltung durch das cartesianische Paradigma, wie es Denken und Fachbereiche einteilt und damit die Sicht auf den Menschen beeinflusst(e) – ist die Reaktion der Verschiebung von seelischen Inhalten, die die Psyche nicht verarbeiten kann und die dann als Symptome oder Relikte des nicht verarbeiteten Ereignisses im Körper landen. Diese Symptome bezeugen die Verletzung der Seele und der Körper bildet die letzte Möglichkeit des adäquaten Ausdrucks dessen ab, was dem Menschen passiert ist. Der Körper ist hier als Projektionsfläche für die Seele und ihrer Verletzungen zu verstehen. Der Körper ist in dieser Betrachtung wie ein offenes Buch der Seele für diejenigen, die gelernt haben, sie zu lesen. Dieses Verständnis ist durch das cartesianische Paradigma weder gewünscht noch abgedeckt: es unterliegt seinem Tabu bzw. der Forderung nach Trennung von Körper und Seele.
Das dem cartesianischen Paradigma inhärente Tabu, sieh den Menschen nicht als Einheit, trennt Menschen in sich durch Einteilungen in Fachbereiche wie Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie. Paradigmatisch und gesetzlich haben die Mediziner nichts mit Psyche und Seele zu schaffen und die Psychologischen Psychotherapeuten (eigentlich) nichts mit dem Körper. Damit fällt das menschliche Wesen als schützenswertes Gut zwischen Medizin und Psychotherapie in den Brunnen. Psychosomatik als wissenschaftlicher Erklärungsansatz und Verbindungsstück, das Körper und Seele trachtet, miteinander in Verbindung stehend zu begreifen, ist ein Notbehelf.
Der Mechanismus der Spaltung als cartesianische Grundlage der Mehrwerterschaffung trennt den Menschen in der Gesamtheit seines menschlichen Wesens von seinen besonderen Fähigkeiten, die auf dem anonymen kapitalistischen Markt angeboten werden können und einen Käufer (einen Unternehmer) finden oder aber nicht. In dem Falle, dass die vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Anbieter keinen Interessenten finden, muss er sich anpassen und ständig neue Fähigkeiten oder Fertigkeiten erwerben oder im Anbieten von seinem ursprünglichen Angebotsniveau herabsteigen und niedrigere Fähigkeiten anbieten. Letzteres ist in der Gegenwart der Fall. Wie es dem Menschen dabei psychisch und seelisch ergeht, ist nicht von Interesse. Denn dieses Interesse ist durch das cartesianische Paradigma vom Körper (von Materie) getrennt zu halten. Für Psyche und Seele war und ist Kirche und später Psychotherapie zuständig. Soweit die damalige zeitgenössische Not Descartes, sein eigenes Leben mittels Trennung der Seele vom Körper retten zu wollen, rational nachvollziehbar ist, gelten die damaligen Gründe, Körper und Seele getrennt zu halten, heute nicht mehr. Aber die Realität, sprich gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten, wie, der Körper gehört der Medizin, der Mehrwert gehört den Kapitalisten, ist so geblieben wie jegliche anderweitige folgenschwere Trennung. Das Tabu, Ätiologie und Grundlagen nicht anrühren zu dürfen, hängt heutzutage weniger mit den Gründen, wie sie in den ursprünglichen Zeiten als Grundlage für Entscheidungen und Theorienbildung gestaltet wurde, zusammen, sondern vielmehr mit der Macht, die sich im Laufe der Jahrhunderte mit dieser Spaltung von Materie und Geist/Seele aufbaute und heute unsere Welt bestimmt. Das cartesianische Menschenbild, dem eine Teilung des Menschen in Geist und Körper, res cogitans und res extensa zugrunde liegt, ist bis heute erhalten. Es hält Kapitalismus und Medizin im alten Denken und den Folgen für das menschliche Wesen aufrecht und verhindert eine klare und neue Ordnung der Werte für das menschliche Wesen und dessen Natur. Die Folgen der cartesianischen und kapitalistischen Spaltung bedeuten Macht, Geld, Gesundheit und Wohlergehen für wenige. Für die Vielen bedeuten sie Ohnmacht oder Abhängigkeit, demgemäß kaum Geld und Lebensnotwendiges und minimale Gesundheit (oder Gesundheitsversorgung) und soziales Schlechtergehen oder: „Es geht gerade so. Man kommt durch.“ Aber die Menschen kommen immer schlechter durch das in dieser Form von seiner Basis her gestaltete Leben.
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