Glücklicherweise war es ein geschlossener Wagen, denn es regnete in Strömen. Während er mit großem Lärm über die dunkle Landstraße fuhr, dachte sie daran, daß sie in kurzer Zeit auch hier in der Nähe wohnen würde. Das Auto kroch nur langsam die Anhöhe hinauf und rollte mit unglaublicher Geschwindigkeit bergab. Trotzdem kam es im allgemeinen gut vorwärts und fuhr bald darauf durch die Hauptstraße eines Dorfes. Marjorie schaute durch die triefenden Fensterscheiben und sah einige hellerleuchtete Läden. Sie vermutete, daß dies das Dorf Tynewood war, und sie hatte recht.
Einige Minuten später hielt der Wagen, und als sie das Fenster herunterließ, erkannte sie die großen, eisernen Tore des Schlossparks. Der Chauffeur hupte mehrere Male laut, und nach einiger Zeit zeigte sich eine dunkle Gestalt in einem Regenmantel.
»Wer ist da? Ich kann Sie nicht hereinlassen.«
Marjorie lehnte sich aus dem Fenster.
»Ich komme von Rechtsanwalt Vance und soll Doktor Fordham einen wichtigen Brief übergeben.«
Ohne weitere Widerrede wurde nun das Tor geöffnet, und das Auto rollte die lange, gewundene Zufahrtsstraße entlang, die auf beiden Seiten von hohen Bäumen flankiert war. Dann hielt der Wagen aufs neue.
Nur das halbkreisförmige Fenster über der Haustür war erleuchtet, sonst lag das große Haus vollkommen im Dunkeln.
Marjorie stieg aus und bat den Chauffeur zu warten. Erst nach einigem Suchen entdeckte sie den altmodischen Klingelzug. Das Läuten tönte schwach nach außen, aber es dauerte geraume Zeit, bis jemand zur Tür kam. Dann hörte sie plötzlich schnelle Schritte und Kettenrasseln. Die Tür wurde aufgeschlossen, und der eine Flügel öffnete sich eine Handbreit.
Der Herr, der den Kopf durch den Türspalt steckte, war ihr unbekannt.
»Wer ist da?« fragte er barsch.
»Ich komme von Rechtsanwalt Vance und bringe einen wichtigen Brief für Doktor Fordham«, wiederholte Marjorie.
»Das bin ich selbst. Treten Sie bitte näher.«
Er schloß die Tür auf und nahm ihr den Brief ab.
»Nehmen Sie Platz.«
Sie ging zu einem der großen Eichensessel hinüber und setzte sich.
»Er ist aber doch für Sir James bestimmt«, sagte er, als er den einen Umschlag geöffnet hatte. »Warten Sie bitte einen Moment.«
Er hatte den Weg zur nächsten Tür halb zurückgelegt, als er sich noch einmal nach ihr umsah.
»Es ist zwar nicht angenehm hier, aber ich kann Sie im Augenblick in kein anderes Zimmer führen. Hoffentlich haben Sie schon zu Abend gegessen, denn ich kann Ihnen leider nichts anbieten. Es ist niemand von der Dienerschaft im Schloß.«
Marjorie hatte noch nichts gegessen, und es wäre ihr sehr lieb gewesen, wenn sie sich hätte stärken können. Aber sie lächelte und schüttelte den Kopf.
»Ach, das macht nichts. Ich bin nicht hungrig«, log sie.
»Bleiben Sie bitte hier in der Halle und gehen Sie nicht weiter.«
»Selbstverständlich spioniere ich hier nicht herum«, erwiderte sie etwas verletzt. »Ich kann auch jetzt schon zum Bahnhof zurückfahren, mein Wagen wartet draußen.«
»Nein, bitte bleiben Sie«, entgegnete Doktor Fordham und verschwand durch die Tür.
Aber in der Eile machte er sie nicht ordentlich zu, so daß das Schloß nicht faßte. Sie öffnete sich von selbst langsam immer weiter, und Marjorie konnte deutlich hören, was im Nebenzimmer gesprochen wurde.
»Ich bin auf jeden Fall ruiniert«, sagte Sir James Tynewood. »Wie furchtbar töricht bin ich doch gewesen!«
»Du hast nun aber eine Gelegenheit, ein neues Leben zu beginnen«, antwortete eine Stimme, die Marjorie bekannt vorkam. »Ich gebe dir die Möglichkeit dazu, und es wäre wirklich sehr unklug von dir, mein Anerbieten abzulehnen.«
»Aber wie soll ich denn das machen?« rief Sir James erregt. »Das ist doch ganz ausgeschlossen! Glaubst du denn, ich könnte nach London zurückgehen, wo all die anderen sind? Meinst du, ich könnte ihnen ruhig entgegentreten und ihnen sagen –«
Ein anderer mischte sich ein, offenbar Doktor Fordham. Ein Briefumschlag wurde aufgerissen – wahrscheinlich war es das Kuvert, das sie selbst gebracht hatte. Papier raschelte, dann folgte tiefes Schweigen, das nur ab und zu durch das Umblättern der Bogen unterbrochen wurde.
»Du bist ja wahnsinnig gewesen!« sagte dann jemand.
»Was meinst du denn?« fragte Sir James nach einer kurzen Pause leise.
Wieder Schweigen. Der Brief war inzwischen wohl weitergegeben worden. Mehrere Minuten lang wurde kein Wort gesprochen.
»Gut, ich will meine Rechnung mit dir begleichen«, sagte Sir James dann plötzlich.
Ein Schuss krachte.
Marjorie sprang totenbleich auf. Wieder folgte eine tödliche Stille, dann hörte das junge Mädchen die verzweifelten Worte: »Mein Gott, ich habe ihn getötet!«
Sie eilte zur Tür und stieß sie ganz auf. Sir James Tynewood lag auf dem Boden, und aus einer häßlichen Wunde in seiner linken Schläfe sickerte das Blut. Ein Mann beugte sich über ihn, und ein Revolver blitzte in seiner Hand. Als sich die Tür öffnete, erhob er sich langsam.
Es war Pretoria-Smith!
Im nächsten Augenblick hatte Doktor Fordham Marjorie aus dem Zimmer gedrängt. Er faßte sie am Arm und zog sie zur Tür.
»Sie haben doch einen Wagen hier?«
»Was – was ist – denn geschehen?« fragte sie fassungslos.
Er antwortete nicht, sondern schob sie in die stürmische Nacht hinaus. Nachdem die große, schwere Eichentür hinter ihm zugefallen war, gab er dem Chauffeur eine Weisung, die sie nicht verstehen konnte.
»Steigen Sie doch ein«, sagte er dann ungeduldig zu ihr.
»Was ist passiert?« fragte sie wieder. »Gehen Sie zur Polizei?«
Er gab ihr auch diesmal keine Auskunft und stieg hinter ihr in den Wagen.
Schweigend fuhren sie durch das Dorf, und erst als sie am äußersten Ende hielten, begann er zu sprechen.
»Sie müssen jetzt zu Mr. Vance zurückkehren. Bis dahin dürfen Sie keinem Menschen erzählen, was Sie hier erlebt haben. Verstehen Sie mich?«
Sie sah ihn entsetzt an. Ihre Lippen zitterten, und sie war den Tränen nahe.
»Nein, ich werde niemandem etwas sagen«, erwiderte sie leise.
»Ich rufe Mr. Vance an. Er wartet in seinem Büro auf Sie, das hat er auch schon in seinem Brief erwähnt.«
»Ist Sir James tot?«
»Hoffentlich nicht«, entgegnete Doktor Fordham kurz.
Nach diesen Worten stieg er aus, schlug die Tür zu, und der Chauffeur fuhr weiter.
Als Marjorie in Paddington ankam, war sie erstaunt, Mr. Vance auf dem Bahnsteig zu finden. Die Rückreise war ihr schneller vergangen als die Hinfahrt. Ihre Gedanken hatten sich unausgesetzt mit den schrecklichen Ereignissen in Schloß Tynewood beschäftigt, und erst bei ihrer Ankunft in London kam ihr wieder zum Bewusstsein, wie hungrig sie war.
»Doktor Fordham hat mir am Telefon gesagt, daß er Ihnen leider nichts anbieten konnte. Sie müssen jetzt sofort etwas essen, und dann habe ich noch mit Ihnen zu sprechen.«
»Haben Sie schon alles erfahren?«
Er nickte.
»Ist – ist – Sir James –«
»Wir wollen nicht über die Sache sprechen, bis Sie gegessen haben«, sagte Mr. Vance liebenswürdig und anscheinend gut gelaunt, obwohl er in Wirklichkeit sehr verstört war. »Sie kommen jetzt mit mir in meine Wohnung.«
Erst als sie sich gestärkt und ein Glas Portwein getrunken hatte, erwähnte er Sir James Tynewood und die Tragödie wieder, die sich auf dem Schloß abgespielt hatte.
»Zunächst muß ich Ihnen eines ausdrücklich sagen«, begann er. »Sir James Tynewood ist nicht tot.«
»Gott sei Dank!« Sie atmete erleichtert auf. »Ich bin so entsetzlich erschrocken, als ich das Blut sah ...«
»Es war nur eine Fleischwunde, und er hat sich wieder erholt. Sein Zustand hat sich sogar so weit gebessert«, sagte er mit großem Nachdruck, »daß er morgen England mit einem Schiff verlassen wird.«
Читать дальше