»Mr. Vance kommt allerdings in einer sehr dringenden Angelegenheit in die Stadt, aber ich glaube nicht, daß er die Absicht hat, sich außerdem noch mit geschäftlichen Dingen zu befassen. Kann ich vielleicht etwas für Sie tun?«
Er legte seinen Hut sorgfältig auf den Tisch, nahm eine große Brieftasche heraus und zog ein Schriftstück daraus hervor.
»Es ist kein Geheimnis. Ich muß Mr. Vance noch irgendwann vor Montag sehen, und wenn das nicht möglich sein sollte, möchte ich Sie bitten, ihm auszurichten, daß Mr. Hawkes von der Finanzfirma Hawkes and Ferguson wegen der Schulden von Sir James Tynewood vorgesprochen hat.«
»Kommen Sie, weil der Baron Schulden gemacht hat?« fragte sie erstaunt.
Er nickte.
»Der junge Herr schuldet mir fünfundzwanzigtausend Pfund. Die hat er sich auf Schuldscheine so allmählich zusammengeborgt. Ich bin jetzt aber ein wenig ängstlich geworden. Wenn Wechsel fällig sind, gibt er mir neue und borgt immer noch mehr dazu. Und ich möchte doch erst einmal mit Mr. Vance sprechen, bevor ich ihm überhaupt noch weitere Gelder vorstrecke.«
»Aber Sir James ist sehr reich!«
»Gewiß – und ich bin sehr arm«, erklärte Mr. Hawkes mit einem breiten Grinsen. »Vor allem möchte ich etwas von meinem Geld wiedersehen.«
»Haben Sie schon mal mit Mr. Vance darüber gesprochen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Sir James hat mich gebeten, nicht zu seinem Rechtsanwalt zu gehen. Aber ich muß sagen, daß die Affäre jetzt doch etwas zu weit gediehen ist. Ich bin ein Geschäftsmann und habe keinen Respekt vor Titeln. Ganz offen gesagt, ich bin ein Demokrat. Bis jetzt bin ich seinem Wunsch auch nachgekommen, aber nun geht es nicht mehr anders. Ich muß wenigstens einmal eine Abschlagszahlung bekommen. Als Geldverleiher kenne ich natürlich auch meine Kollegen, und von denen habe ich erfahren, daß Sir James nicht nur von mir Geld geliehen hat, sondern auch von Crewe and Jacobsen, von Bedsons Limited und von einem halben Dutzend anderer Firmen. Ich weiß ganz genau, daß er in den Lokalen im Westen dauernd flott und verschwenderisch auftritt, obwohl er bis über die Ohren in Schulden steckt. Der Autofirma in Bond Street schuldet er noch dreitausend Pfund für den Wagen, den er Miss Alma Trebizond geschenkt hat. Als ich heute morgen seine Vermählungsanzeige in der Zeitung las, sagte ich zu mir: ›Jetzt ist es Zeit, dich einmal nach deinem Geld umzusehen.‹ Wenn einer Geld zum Heiraten hat, dann hat er auch Geld, um seine Schulden zu bezahlen.«
Er lachte über diesen faden Witz und neigte sich vertraulich zu Marjorie.
»Sehen Sie, ich bin ein Kaufmann. Sie stehen ja wohl mit beiden Beinen auf der Erde und werden mich verstehen. Ich sage Ihnen ganz offen, daß ich wegen meines Geldes etwas ängstlich geworden bin. Und wenn Sie es bei Mr. Vance durchdrücken können, daß meine Forderung zuerst berücksichtigt wird, zahle ich Ihnen eine anständige Provision.«
»Da täuschen Sie sich in mir. Ich habe nicht die Gewohnheit, auf solche Weise Geld zu verdienen«, entgegnete sie kühl. »Und ich möchte auch nicht mit Ihnen über derartige persönliche Angelegenheiten sprechen. Ich bin zwar die Privatsekretärin von Mr. Vance, aber ich glaube, er würde sehr ärgerlich werden, wenn er erführe, daß Sie mich so weit in Ihr Vertrauen gezogen haben.«
Damit endete die Unterredung zwischen Marjorie und dem Inhaber der Firma Hawkes and Ferguson.
Als der Rechtsanwalt ins Büro kam, berichtete sie ihm davon, und er wurde sehr ernst.
»Ich habe schon lange vermutet, daß der junge Mann in die Hände von Halsabschneidern gefallen ist. Schicken Sie Mr. Herman ein Telegramm, daß er ins Büro kommen soll. Ich möchte Sie nicht weiter mit der Sache belästigen, aber Mr. Herman muß sofort bei all den Geldverleihern, die Sie mir genannt haben, herumfahren und feststellen, wieviel Schulden dieser leichtsinnige Windhund überall gemacht hat.«
»Aber ist Sir James denn nicht sehr reich?«
»Ja, sehr«, entgegnete er kurz.
Es war Sonnabend nachmittag, aber im Büro von Mr. Vance herrschte Hochbetrieb. Leute kamen und gingen, und Mr. Herman fuhr in einem Taxi bei den Finanzleuten herum, denen Sir James möglicherweise etwas schulden konnte. Er traf am Wochenende allerdings nicht alle in ihren Wohnungen an.
Auf die Bitte des Rechtsanwalts blieb Marjorie bis zum Spätnachmittag im Büro. Schreibarbeiten hatte sie nicht zu erledigen, aber sie vermutete, daß ihre Dienste früher oder später benötigt würden, und diese Vermutung stimmte auch.
Um fünf Uhr klingelte Mr. Vance, der gerade im Begriff war, einen großen Briefumschlag zu versiegeln. Allem Anschein nach hatte er das umfangreiche Schreiben am Nachmittag selbst verfaßt. Erst als er mit dem Siegeln fertig war, schrieb er die Adresse auf das Kuvert. Aber plötzlich hielt er unentschlossen inne.
»Hm, das ist allerdings unangenehm«, meinte er und schrieb erst nach einem kurzen Zögern weiter.
»Sir James Tynewood, Baron«, las sie über seine Schulter und war enttäuscht. Sie nahm an, daß sie diesen Brief wieder selbst überbringen sollte, und nach den Erfahrungen des vergangenen Abends war ihr ein solcher Auftrag wenig willkommen.
Zu ihrem größten Erstaunen nahm er einen noch größeren Umschlag aus der Schublade und steckte den ersten Brief hinein. Die neue Adresse lautete auf einen Namen, der ihr fremd war: »Dr. Fordham, Schloß Tynewood, Tynewood.«
Einen Augenblick saß Mr. Vance noch in Gedanken versunken, dann schaute er sie durch seine großen Brillengläser an und lächelte.
»Miss Stedman, ich möchte Sie bitten, in meinem Auftrag eine kleine Tour aufs Land zu machen. Kennen Sie Tynewood?«
Sie nickte.
»Es liegt in Droitshire«, erklärte er. »Sie haben einen Zug um fünf Uhr vom Bahnhof Paddington aus, mit dem sind Sie noch vor acht dort. Die nächste Station liegt allerdings fünf Kilometer von Schloß Tynewood entfernt, aber ich werde dem Gasthaus zum Roten Löwen in Tynewood telegrafieren, daß man Ihnen ein Auto an die Bahn schickt. Die Leute sind dort ziemlich modern eingerichtet. Auf keinen Fall werden Sie Schwierigkeiten haben, nach dem Schloß zu kommen. Gegen elf Uhr heute Abend sind Sie wieder hier. Sie haben einen guten, schnellen Zug, der um neun dort abfährt. Diesen Brief müssen Sie Doktor Fordham persönlich übergeben.«
Sie nickte.
»Ich muß Ihnen aber noch etwas sagen, Miss Stedman«, fuhr er ein wenig verlegen fort. »Seit Sie meine Privatsekretärin sind, haben Sie eine ganze Reihe zum Teil recht unangenehmer Dinge erfahren, und ich weiß, daß Sie stets alles für sich behalten haben. Aber das Geheimnis um Sir James Tynewood ist unangenehmer als alles andere. Ich kann nur hoffen, daß Sie nichts Neues darüber hören. Sollte das trotzdem der Fall sein, so muß ich Sie dringend bitten, als unverbrüchliches Geheimnis zu betrachten, was Sie heute Abend erfahren und was Sie gestern erlebt haben.«
»Das ist selbstverständlich, Mr. Vance. Aber –«
Sie zögerte.
»Was wollten Sie denn sagen?«
»Ach, es hat mit der Sache selbst nichts zu tun. Ich möchte nur meiner Mutter noch mitteilen, daß ich erst spät nach Hause komme. Sie erwartete mich heute nachmittag schon um zwei.
»Ich werde einen Boten hinschicken – oder besser ein Telegramm.«
Marjorie lachte.
»Ein Telegramm bringt meine Mutter immer in Aufregung.« Sie erklärte ihm nicht näher, daß Mrs. Stedman sich durch ihr optimistisches Temperament verleiten ließ, bei jedem Klingeln der Hausglocke ein Wunder zu erwarten. Natürlich war die alte Dame dann jedesmal sehr enttäuscht, wenn nicht irgendeine angenehme Nachricht kam.
Die Fahrt wollte für Marjorie kein Ende nehmen, obgleich sie sich ein Buch und Zeitschriften gekauft hatte. Erleichtert atmete sie auf, als sie endlich an ihrem Ziel ankam und auf den nassen Bahnsteig treten konnte. Mr. Vances Telegramm hatte tatsächlich den gewünschten Erfolg gehabt, denn ein altes, etwas geräuschvolles Auto wartete am Stationsausgang auf sie.
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