Die Verteidiger auf den Wehranlagen Dirans mussten sich die Hände vor die Augen halten, als der grelle Lichtblitz in den Himmel emporschoss. Die Explosion war verheerend, die nachfolgenden Druckwellen katastrophal. Das feindliche Heerlager war sekundenlang taghell erleuchtet. Ungläubig beobachteten die Soldaten auf den Wehranlagen, die sich rasch ausbreitende Zerstörung.
„Ich denke, das dürfte euer Zeichen sein!“ brüllte Vitras lautstark, damit General Gisdern ihn bei dem ohrenbetäubenden Lärm hören konnte. Gisdern zitterte am ganzen Körper. Schnell sammelte sich der Offizier jedoch wieder und rannte zu den wartenden Einheiten. So schnell die Katastrophe über Harun Ar Sabahs Armee hereinbrach, so schnell war alles wieder vorüber. Vitras gab dem Tor Kommandanten ein Handzeichen, woraufhin dieser das Haupttor öffnen ließ. Vitras blieb auf dem Wehrgang oberhalb des Tores und beobachtete, wie die viertausend Keldianer aus dem Tor preschten und auf das feindliche Heerlager zuhielten. Dort angekommen, bot sich ihnen ein Bild der kompletten Zerstörung. Die Keldianer ritten durch ein Meer aus Schutt und leblosen Körperteilen. Wann immer sie Überlebende fanden, töteten sie diese aus einem Akt des Erbarmens und Mitleids – und nicht länger, weil es sich um den Feind handelte. Der Sieg über Harun Ar Sabahs Armee war komplett und total.
Vitras blieb lange auf der Wehranlage stehen und schaute abwechselnd, mal zum Sternenfirmament dann wieder zum zerstörten Heerlager. Dabei dachte er an Mai. Als die ersten Keldianer zurückkehrten und von der Niederlage des Feindes berichteten, brach ein ohrenbetäubender Jubel auf den Mauern aus. Wie ein Lauffeuer breitete sich die Nachricht in der gesamten Stadt aus. Trotz des Sieges mochte in Vitras keine Freude aufkommen. Erleichterung gewiss, aber keine Freude. In Gedanken versunken verließ er die Wehranlagen, stieg auf ein Pferd das ihm ein junger Diranischer Soldat brachte und ritt zurück zum Palast. Von überall strömten die Bewohner Dirans auf die Straßen und feierten überschwänglich.
Im Palast angekommen suchte Vitras erneut Mais Gemächer auf und setzte sich wieder auf den kleinen Schemel. Bis zum frühen Morgen blieb er dort sitzen und dachte an all die schönen Momente mit der stolzen Kriegszauberin zurück. Ihre Trainingseinheiten mit Sanara, ihre gespielte Furcht vor Filou oder auch die Art wie sie ihre Augen verdrehte, wenn sie kurz davor stand einen Wutanfall zu bekommen. Noch immer stand das Paket dort, wo er es am Vortag abgestellt hatte. Er hob es auf, verließ den Raum und ging zu seinen und Sanaras Gemächern. Er hatte Angst vor dem was nun vielleicht kommen mochte. Als er die Tür öffnete stand Sanara schon fertig angezogen im Zimmer und begrüßte ihn.
„Guten Morgen Großvater! Ist es wahr, wir haben wirklich gewonnen?“
Vitras nickte ihr lediglich zu: „Ja es ist wahr. Der Feind ist geschlagen!“
„Das sind ja großartige Neuigkeiten,“ erwiderte sie, während sie sich ihr Kurzschwert anlegte.
„Ich werde gleich zu Mai gehen und sie fragen ob wir das Training wieder aufnehmen können.“
Vitras schritt auf seine Enkeltochter zu und beschloss sich genau an Mais Worte zu halten.
„ Ihr werdet ihr gar nichts sagen müssen. Wenn es vollbracht ist gebt ihr das hier. Sie wird dann verstehen.“
„Ich habe hier etwas für dich,“ brachte er in einem stockenden Tonfall hervor: „Etwas, dass ich dir von Mai geben soll!“
Überrascht nahm Sanara das Paket aus den Händen ihres Großvaters und bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte. Als sie ihm ins Gesicht schaute, wurde ihr schlagartig klar, dass etwas schreckliches passiert sein musste. Vitras fuhr einmal zärtlich mit seiner Hand über Sanaras pechschwarzes Haar. Dann drehte er sich um und verließ die Räumlichkeiten wieder. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte ging Sanara mit dem ziemlich großen Paket in ihr Zimmer, stellte es auf ihr Bett und setzte sich daneben. Filou schnupperte interessiert an den Leinentüchern, die das Paket umschlossen während Sanara die Lederschnüre auseinander band, um es zu öffnen. Ihr Herz krampfte sich zusammen als sie den Inhalt sah. Fein säuberlich zusammen gelegt befand sich Mais schwarzer Kampfanzug darin, mitsamt all den Wurfsternen, Messern und einem nagelneuen Paar Stiefeln. Obenauf lag ein zusammengefalteter Brief. Sanara nahm das Papier in ihre Hände und konnte urplötzlich ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie Mai niemals wiedersehen würde. Dann faltete sie den Brief auseinander und begann zu lesen.
Liebe Sanara,
wenn Du diese Zeilen liest, werde ich im großen Sanktrum wandeln. Es tut mir unendlich leid, dass mir nur so wenig Zeit mit Dir vergönnt war.
Verliere Dich nicht in Traurigkeit oder finsteren Gedanken. Führe Dein Training fort so wie ich es Dich gelehrt habe. Der Tag wird kommen, an dem Dein Großvater nicht mehr auf Dich Acht geben kann. Dann ist es an Dir auf ihn acht zu geben. Deine Göttliche Quelle ist dermaßen stark, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte. Gepaart mit Deinem Kampfgeschick, wirst Du eines Tages die mächtigste Kriegszauberin werden, die es je gab.
Mache es Dir zur Aufgabe Deinen Bruder zu finden, damit ihr gemeinsam die Prophezeiung erfüllen könnt.
Ich liebe Dich, wie ich eine Schwester geliebt hätte. Dich, Deinen Großvater und natürlich Deinen kleinen Drachen.
Mai
Sanara faltete den Brief zusammen, legte ihn sorgsam in das Paket zurück und verschnürte es wieder.
„Eines Tages bin ich soweit dein Geschenk tragen zu können!“ flüsterte Sanara: „Dann werde ich nicht nur meinen Bruder finden, ich werde deinen Tod rächen... das schwöre ich dir Mai!“
Sanara legte sich neben dem Paket auf das Bett und wurde von heftigen Weinkrämpfen durchgeschüttelt. Auch die zärtliche Wäsche, die Filou ihr verabreichte, konnte sie im Augenblick nicht trösten. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie nicht mehr weinen konnte. Sie erhob sich vom Bett und starrte auf Filou, der sie neugierig musterte.
„Komm mein Kleiner, wir gehen laufen und anschließend üben wir mit den Wurfsternen!“ Sofort sprang Filou auf ihre Schultern und sie verließen die Gemächer.
***
Vitras saß ein letztes Mal mit den wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt Diran zusammen, bevor er mit Sanara seine Heimreise in den Hochlandbund antrat. Hierzu gehörten General Kurz, wichtige Mitglieder der Handelsgilde und einige Adlige von denen bekannt war, dass sie dem ehemaligen Regenten stets mit Skepsis gegenübertraten. Generalmajor Gisdern war vor einigen Tagen mit seinen Soldaten nach Keldan zurückgekehrt. Um das Diranische Heer zu unterstützen, das neu strukturiert und aufgebaut werden musste, ließ er zunächst fünfhundert seiner Soldaten zurück. Die Aufräumungsarbeiten vor und in der Stadt gingen gut voran. Außerdem wurde festgelegt, die durch die Katapulte angerichteten Schäden an der Stadtmauer nicht nur auszubessern, sondern die Wehranlagen insgesamt zu verstärken. Vitras war sich absolut im Klaren darüber, dass Harun Ar Sabah und der Dämon zwar eine schwere Niederlage hinnehmen mussten, die Gefahren, die von ihnen ausgingen, aber noch längst nicht gebannt waren. Man hatte lediglich etwas Zeit gewonnen. Aus dem Grunde bestand er auch darauf, die Handelsrouten, die in den Hochlandbund führten, trotz des Sieges zu verlegen. Da die neuen Handelsstraßen von Keldan aus jedoch erst ausgebaut werden mussten, gab er sich damit einverstanden, dass die Karawanen vorerst die alten Routen nutzten. Auch musste ein Nachfolger für den alten Regenten gefunden werden. Ein Punkt von dem Vitras ausging, dass er zu heftigen Kontroversen führen würde. Zu seiner Überraschung schlug die Handelsgilde einstimmig General Kurz für dieses hohe Amt vor. Alle Vertreter der Versammlung begrüßten den Vorschlag. Somit wurde der General einstimmig zum neuen Regenten gewählt. Vitras lächelte ihm aufmunternd zu und gratulierte dem jetzt ehemaligen General als erster:
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