»Das würden nicht viele Männer machen.« Karya nickte anerkennend. »Haltet ihn nur schön warm, trag ihn am besten unter Eurer Kleidung. Vielleicht schafft er es ja doch.« Die Kameraden öffneten die Münder im stummen Protest, doch Karyas Miene ließ sie schweigen.
Nathan wurde ihr aller Kind in diesen Tagen. Keiner der Kameraden konnte sich dem entziehen, wenn sie erst einmal eine gewisse Zeit mit ihm hinter sich hatten. Er schwand erschreckend schnell dahin, ebenso wie seine Mutter.
Siri bekam Fieber. Jetzt erst erkannte Currann, wie ausgezehrt sie wirkte. Er wusste, dass sie selbst kaum besser aussahen, doch ihre Krankheit beschleunigte es. Er begann, ernsthaft um sie zu fürchten. In der Siedlung starben die beiden Säuglinge, wie Karya es prophezeit hatte. Nathan hatte schon bald keine Kraft mehr zum Schreien. Nur noch seine dünnen Ärmchen zuckten durch die Luft, wenn sein Bauch, der unnatürlich rund wirkte, ihn drückte. In diesen Tagen wich Currann Siri und Nathan kaum mehr von der Seite. Er fütterte sie beide, sie ließ es einfach zu, weil sie keine Kraft mehr hatte, sich zu wehren. Die ganze Zeit sah sie ihn nicht einmal an, ließ die Augen geschlossen. Er dachte, es ginge ihr so schlecht, dass sie nicht einmal mehr die Augen öffnen konnte, und ahnte nicht, was der wahre Grund war.
Die Kameraden schränkten ihre Rationen noch mehr ein, damit Siri und Nathan mehr bekamen. Currann hütete sich, ihr davon etwas zu sagen, und es zeigte Wirkung: Bald vertrug Nathan die Nahrung besser, und auch Siris Fieber ließ nach. Sie war wieder in der Lage, selbstständig etwas zu sich zu nehmen. Leider kam damit auch ihr Bedürfnis nach Abstand zu ihm wieder. Currann konnte es nicht ändern. Er war froh, dass es ihr besser ging.
Sie begannen, Hoffnung zu schöpfen. Die Wege trockneten langsam ab, der Schnee schwand, die Sonne wurde kräftiger und am Flusslauf spross das erste Grün. Es war noch viel zu wenig, um daraus etwas zu essen gewinnen zu können. Wer sich noch auf den Beinen halten konnte, hielt immer öfter Ausschau am Fluss. Siri erklärte den Kameraden nun endlich auch, warum. Im Frühjahr kamen große Fischschwärme den Flusslauf hinauf, um in den höher gelegenen Teilen des Wasserlaufes zu laichen. Es war jedes Jahr ein großes Ereignis, wie diese den steilen Lauf des Flusses erklommen, und sie würden genügend fangen, dass es mit dem Hunger vorbei wäre. Doch die Fische ließen auf sich warten genauso wie das Ende des Winters.
Und dann, als Kiral eines Tages das erste Mal ausritt, um die Wege zu erkunden, entdeckte er auf dem Rückweg eine Bewegung am Pass. Die Goi kamen.
Er ritt zurück, so schnell die Wege es zuließen, warnte die Menschen in der Siedlung und seine Kameraden. Sie steckten in ernsten Schwierigkeiten. Die Hälfte der Männer war zu krank, um zu kämpfen, sie mussten einige sogar in den Tempel tragen.
Während alle um ihn herum rannten, lehnte Kiral mit geschlossenen Augen an Winds Kruppe. Currann fiel es erst gar nicht auf. Erst als er alle auf ihre Posten geschickt hatte, bemerkte er die stille Gestalt im Innenhof. Er schluckte den Befehl, den er bereits auf den Lippen hatte, herunter und sprach ihn leise an: »Was ist mit dir?«
Der Cerinn seufzte nicht, aber es kam dem sehr nahe. »Ich werde deine Hilfe brauchen.«
»Wobei?«
Kirals schmale Augen öffneten sich ein wenig. In ihnen stand ein Ausdruck, den Currann sofort deuten konnte. Die Zeit der Rache war gekommen. »Ich brauche dich, um es zu vollenden, falls ich nicht mehr dazu in der Lage sein sollte. Willst du das für mich tun?«
Für Currann war es keine Frage. »Was immer ich für dich tun muss, ich werde es tun«, antwortete er fest.
»Dann komm mit mir. Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, und ich habe dir einiges zu erklären. Du sollest den Befehl jemand anderem übertragen.«
»Sinan?«, rief Currann zum Wehrgang hinauf und instruierte ihn entsprechend, damit er sich voll und ganz Kiral widmen konnte.
Es begann damit, dass Kiral mit einer kleinen Schale in der Hand zu seinem treuen Freund Wind trat. Er flüsterte beruhigend auf ihn ein, es klang fast beschwörend. Currann dachte schon, er würde sich nur von ihm verabschieden, da zückte Kiral sein Messer und ritzte die Haut seines Freundes an. Ein dünner Blutstrahl rann in die Schale. Wind scheute nicht einmal, so vollkommen vertraute er seinem Herrn. Currann stand sprachlos dabei und beobachtete, wie sich die Schale langsam füllte. Dann verschloss Kiral die Wunde mit einer seiner Salben. Er murmelte etwas auf Cerinnisch, es klang fast wie ein Dank, und winkte Currann mit sich zur Schwitzhütte.
»Jetzt müssen wir uns reinigen.« Sie legten ihre Kleidung ab. Erstaunte Rufe von den anderen brachte Currann mit einer wütenden Handbewegung zum Schweigen. »Ich werde dir jetzt erklären, was du zu tun hast«, sagte Kiral leise, als er das Feuer tüchtig geschürt hatte und langsam Wasser auf die heißen Steine goss.
»Du willst deine Ehre wieder herstellen.«
»Meine Ehre?« Kirals Augen wurden schmal. Ein Tropfen rann durch die Furche in seiner Stirn und fiel in die Schale. »Die habe ich schon lange nicht mehr. Mein Volk hat sie mir genommen, als sie mich zu euch schickten, mir meine Abstammung und meine Waffen nahmen. Nein, ich will meine Seele retten.«
»Damit du wieder zu deinen Ahnen gehen kannst.« Jetzt begriff Currann, was der Verlust des Amulettes für Kiral bedeutete.
Kiral atmete tief durch. »Ja, und dafür brauche ich deine Hilfe. Meine Leute wählen für so etwas normalerweise einen nahen Verwandten, den Vater, den Bruder, vielleicht den Onkel. Ich wähle dich, meinen Bruder nicht im Blute, sondern im Geiste.«
Mit einem leisen Sprechgesang begann Kiral ein langes Ritual, komplizierter als alles, was Currann bisher erlebt hatte. Von den Kräutern, die Kiral in langen Abständen in den Dampf mischte, wurde ihm bald schwindelig. Er fiel in eine Art Wachtraum, der ihm merkwürdige Bilder vorgaukelte. Er meinte Althea zu sehen, wie sie auf ihn zu trat und seinen Kopf umfasste, ihr Licht für ihn leuchten ließ.. Currann lächelte und gab sich ganz diesem Gefühl hin. Er wurde erst wieder wach, als ihn ein Schwall eiskaltes Wasser traf. Fast bedauernd ließ er die Bilder los.
Kiral hatte die Klappen der Hütte geöffnet. Draußen war es dunkel. Currann erkannte verwundert, dass sie Stunden in der Hütte verbracht haben mussten. Er fühlte sich merkwürdig wach und gleichzeitig schwindelig vor Hunger und von den Dämpfen.
Im schwachen Licht des ersterbenden Feuers hockte Kiral mit der Schale in der Hand vor ihm. Seine Augen glänzten, sie wirkten unnatürlich groß. Er tauchte zwei Finger in die Schale. »Werde mein Herz«, seine Finger berührten Currann dort, »mein Denken und meine Kraft.« Die letzten beiden Zeichnungen erhielt Currann auf die Stirn und den Oberarm. Dann hielt ihm Kiral die Schale hin.
»Werde mein Herz, mein Denken und meine Kraft«, wiederholte Currann und tat dasselbe bei Kiral.
»Ich danke dir.« Kiral reinigte erst seine, dann Curranns Hände, dann hielt er ihm die Kleidung hin.
»Was soll ich jetzt machen?« Immer noch etwas benommen kleidete Currann sich an.
»Hm.. wie wäre es, wenn du deine Rüstung anlegst? Alles andere folgt später.« Er dankte ihm mit einem Nicken. Merkwürdigerweise war es dies, was Currann wieder zu sich brachte. Die Goi waren im Anmarsch! Rasch eilte er nach drinnen und rüstete sich.
Siri wurde wach, als sie nebenan ein schleifendes Geräusch vernahm. Draußen war es dunkel, und seltsamerweise brannte auch innen kein Licht. »Currann?« Sie stand plötzlich in der Tür. Nur schemenhaft konnte sie ihn im Licht des fast erloschenen Feuers erkennen.
Er hielt damit inne, sein Schwert zu prüfen. »Siri..«
»Die Goi sind da, nicht wahr?«
»Ja. Leg dich wieder hin, hier ist es kalt«, antwortete er ungewohnt barsch. In Gedanken bereits ganz bei dem Kampf, mochte er sich nicht ablenken lassen, schon gar nicht durch die Tatsache, dass sie nur im Hemd und barfuß vor ihm stand. Die hellen Flächen schimmerten schwach im Dunkel. Sie drehte sich wortlos um und verriegelte die Tür hinter sich.
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