»Warte, warte, ich hab’s gleich..«
Siri sah mit klopfendem Herzen zu. Es erinnerte sie an ihre eigene Lage, ja, es entsprach ihr sogar exakt! War das ein Zeichen? Sie nahm allen Mut zusammen und entschuldigte sich im Stillen bei Tamas. »Du brauchst es gar nicht zu versuchen«, sagte sie leise, aber deutlich.
Currann hob den Kopf, und die beiden Spieler sahen sie erstaunt an. »Was..?« Tamas blickte verwirrt auf das Spiel herab und wieder zu ihr.
Siri holte tief Luft. Sie war sich des Blickes von der anderen Seite des Raumes so sehr bewusst, als berührte er sie. »Egal, welchen Zug du jetzt machst, du wirst auf jeden Fall verlieren. Er hat dich von Anfang an in eine Falle geführt, und du entkommst ihr nicht, weil du den nächsten Zug machen musst, sonst geht es nicht weiter.«
»Aber Siri..«
»Nein, lass es bleiben«, schnitt sie ihm scharf das Wort ab. Sie erhob sich so schnell, dass Stoff, Nadel und Faden zu Boden fielen. Sie merkte es nicht einmal. »Du hättest es von Anfang an bleiben lassen sollen. Es war doch klar, dass es nicht gut gehen konnte, oder? Und es deine eigene Schuld, deine eigene Torheit. Sinan kann nicht einmal etwas dafür.« Ihre Stimme bebte bei den letzten Worten. Sie drehte sich um und flüchtete sich in die Sicherheit des Kommandantenraumes.
»He, Moment mal!«, rief Tamas mehr verwirrt als empört hinter ihr her.
Sinan dagegen schnappte nach Luft. Ihm war sofort klar, was sie getan hatte. »Tamas, geh und löse Kiral ab. Nun mach schon!«
»Aber, was sollte das..« Weiter kam er nicht, denn Sinans gesunder Arm packte ihn mit erstaunlicher Kraft und zog ihn hoch. Jetzt wehrte sich Tamas doch, aber nur, bis er Curranns regungsloses Gesicht sah.
»Komm, wir gehen«, flüsterte Sinan eindringlich. Tamas wehrte sich nicht mehr, sondern folgte ihm wortlos hinaus.
Currann saß wie erstarrt. Was hatte er dort gerade gehört? Sinan schien es sofort kapiert zu haben, aber ein Teil von ihm war wie in Nebel gepackt. Er konnte es nicht greifen. Er wusste nur, dass eben etwas geschehen war. In seiner Ratlosigkeit sprang er auf und folgte seinen Kameraden auf den Turm. Bei allen anderen versagte sein Gespür doch auch nicht, warum immer nur bei ihr?
»Hör auf, Tamas! Sie meinte nicht dich.«
Currann blieb wie vom Blitz getroffen auf der obersten Treppenstufe stehen. Die Kameraden fuhren herum und sahen ihn an. Currann musste sich setzen und barg sein Gesicht in den Händen. Die Erkenntnis traf ihn tief. Sie tat weh. »Sie meinte sich selbst. Und mich.«
»Hast es endlich begriffen«, brummte Kiral, dem sofort klar war, worum es ging, obwohl er gar nicht in der Diele dabei gewesen war. Er schlug ihm im Vorübergehen auf die Schulter und machte sich an den Abstieg. Keinen Moment später war er in seiner Turmkammer verschwunden.
Currann hatte wahrlich viel nachzudenken nach diesem Vorfall, und langsam, je mehr er zur Ruhe kam, begann er, sie zu verstehen. Zumindest dachte er das. Es half ihm zu verstehen, dass sie sich selbst die Schuld gab, dass sie dachte, sie hätte ihn in eine Falle geführt, weil sie ihn von Anfang an nicht zurückgewiesen hatte. Das war völliger Unsinn in seinen Augen, half ihm aber nicht weiter. Er musste Geduld mit ihr haben, begriff er, und auf sie warten. Das vor allem. Von da an beobachtete er sie nicht mehr. Er behandelte sie einfach wie die anderen Kameraden, auch wenn es ihm noch so schwer fiel.
Befreit von dem Gefühl, beobachtetet zu werden, schaffte sie es sogar, sich im Beisein der anderen normal mit ihm zu unterhalten, und er verbuchte es als Erfolg seiner Geduld. Er konnte nicht ahnen, dass sie ihm etwas vorspielte, dass sie ein Schauspiel aufführte, nur um ja nicht wieder Gefahr zu laufen, von irgendwelchen bösen Erinnerungen überrascht zu werden, die seine Blicke, ja, seine reine Anwesenheit in ihr auslösten.
Etwa zu dem Zeitpunkt, den Peadar anhand der Sterne als den Beginn der Schneeschmelze festgelegt hatte, fegte ein erneuter Eissturm über Branndar hinweg und machte ihre schlimmsten Befürchtungen wahr. Es wurde noch kälter, und dies sperrte sie förmlich ein. Jetzt taten sie nur noch das Nötigste, und auch in der Siedlung wurde es langsam ernst. Der Torf wurde knapp und bescherte ihnen zum Hunger auch noch die Kälte. Immer öfter berichtete Sinan, dass einer der Jungen während des Unterrichts eingeschlafen war. Im Gegensatz zu den Hütten wurde das Schulhaus den ganzen Tag mit den Brennsteinvorräten aus der Schmiede geheizt, um die Jungen möglichst warm zu halten. Es empörte Siri, dass es nicht auch für die Mädchen galt, und nach einem langen Abend, an dem sie und Sinan ihren Vater mit Argumenten traktiert hatten, gab dieser schließlich klein bei und erlaubte, dass auch die Mädchen dem Unterricht beiwohnen durften. So war wenigstens tagsüber für das Wohl der Kinder gesorgt.
Dennoch geschah, was Karya befürchtet hatte: Viele wurden krank. Sie hatte so viel zu tun, dass sie kaum noch zur Ruhe kam. Besorgt beobachteten sie, wie die Heilerin immer dünner und ausgezehrter wurde. Die Frauen halfen ihr, soviel sie konnten, aber die meisten wurden selber krank. Mari durfte sie nicht sehen, und Siri blieb im Fort bei ihrem Kind.
Den schwersten Schicksalsschlag jedoch erhielt Nuria. Evans Gesundheit, mit der es eh nicht zum Besten stand, hielt dieser Belastung nicht stand. Er bekam Lungenfieber. Die Kameraden halfen, wo sie nur konnten. Sie stifteten ihre überzähligen Felle, noch ein Pferd wurde geschlachtet und die Torfvorräte bis aufs Äußerste ausgereizt. Nuria und Strahan bekamen den Großteil davon ab, Ouray übernahm nachts die Botengänge, damit die übrigen Bewohner nichts davon merkten.
Die Tage wurden länger und länger und auch etwas milder, doch es war nicht genug, um den Schnee schmelzen zu lassen. Der Winter wollte und wollte nicht enden.
Eines Nachts kam Ouray mit einem Gesicht zurück, bei dem die Kameraden wussten, dass er keine guten Neuigkeiten mitbrachte. »Karya sagt, dass sie nichts mehr tun kann. Er hat nicht mehr lange zu leben.«
Niemand brachte ein Wort heraus. Siri wandte sich mit Tränen in den Augen ab.
»Gibt es.. gibt es etwas, das sie noch brauchen?«, fragte Currann schließlich in die Stille hinein. Ouray konnte nur den Kopf schütteln.
Evans Todeskampf dauerte mehrere Tage. In dieser Zeit sahen die Bewohner nichts von Karya und dem Mönch. Die Kameraden zögerten, ob sie die Hütte aufsuchen sollten, und Strahan riet davon ab.
»Dies ist eine Zeit, die sie allein durchstehen müssen«, sagte er zu Currann. Wie so oft standen sie auf einem der Türme und beobachteten den Himmel. Sie waren inzwischen wieder in der Lage, normale Gespräche miteinander zu führen. Currann ahnte, dass dies an seinem geänderten Verhalten zu Siri liegen musste. Irgendwie schien sie ihrem Vater mitzuteilen, wie es um sie stand. Sie war unheimlich geschickt darin, andere Dinge wissen zu lassen, ohne ein direktes Wort darüber zu verlieren, dachte er nicht zum ersten Mal. Nur bei ihm war es immer noch so, als umgäbe sie eine Wand aus dichtem Nebel. Er konnte sie einfach nicht greifen.
Der Schulmeister seufzte. »Um diese Zeit waren wir normalerweise schon damit fertig, die Trümmer der Schneeschmelze zu beseitigen.«
»Trümmer?«, unterbrach Currann ihn und merkte alarmiert auf.
»Ja, Trümmer. Was glaubt Ihr denn, wohin diese ungeheure Masse Schnee fließt, wenn sie erst einmal geschmolzen ist? Es wird Hochwasser geben, und das ist gut so.«
»Gut?! Erklärt mir das bitte!«, schluckte Currann. Er sah im Geiste schon die Hütten von einer riesigen Wasserwand zerstört werden.
Strahan schmunzelte, obwohl die Lage bitterernst war. »Keine Sorge, die Siedlung liegt hoch genug. Das Wasser wird nicht bis dorthin kommen. Nein, durch die Schneeschmelze wird unheimlich viel Geröll, aber auch Erde in den Fluss und über unsere Felder geschwemmt. Sie ist viel fruchtbarer als der Boden hier, denn sie kommt aus den Bergen. Warum das so ist, kann ich Euch nicht sagen. Ich wäre gerne einmal dort oben hinaufgeritten und hätte es genauer erforscht, aber das ist aus verständlichen Gründen nicht möglich.«
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