Siri nickte unglücklich. »Kiral hat eine Idee, wie wir etwas mehr herausbekommen. Wenn wir die Hirse der Pferde dazu nehmen, bleibt etwa das Doppelte übrig. Das reicht aber immer noch nicht.«
»Wir müssen schlachten«, fuhr Kiral fort. »Die trächtigen Stuten können wir nicht schlachten, ebenso wenig wie deinen Hengst, Currann. Den brauchen wir für die Zucht. Bleiben also nur noch die Wallache übrig.« Er sagte das ganz regungslos, doch in seinem Innern zog sich alles zusammen.
»Du willst doch nicht etwa deinen treuen Wind..« Ouray verschlug es die Sprache. »Nein, das lasse ich nicht zu. Ich hänge bestimmt nicht so an meinem Pferd wie du an Wind. Ihr könnt meines nehmen. Wenn die Stuten gefohlt haben, werde ich bestimmt Ersatz finden.«
»Kiral?«, fragte Currann. Dieser nickte zögernd. »Also gut. Hat das schon einmal jemand gemacht?«
Kiral brummte etwas. »Offensichtlich nur ich«, sagte er laut.
»Nein, ich auch«, fiel Ouray ein. »Aber nur mit Schafen. Du, Siri?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe mich immer davor gedrückt. Dann wird es wohl das erste Mal sein. Hoffentlich reicht es dann, bis wir wieder auf Jagd gehen können.« Das hofften sie alle.
Yemon wollte auch seinen Teil zu dem beitragen, was sie sich ausgedacht hatten: »Ich werde die Suppe mit so viel Wasser strecken, wie es nur geht. Kiral sagte mir, dass sein Volk in strengen Wintern auch gemahlenes Getreide hineintut, das dickt sie ein. Ab sofort gibt es kein Brot mehr. Wir werden uns mit dem begnügen müssen, aber es füllt wenigstens die Bäuche. Außerdem..« Er schluckte und sah Hilfe suchend zu Siri hinüber.
»Wir werden alles Verwertbare dort hineintun, selbst das Blut.«
Sinan und Currann verzogen das Gesicht. »Ihr wollt Blutsuppe kochen? Das halte ich für eine gute Idee. Das ist zu Hause das traditionelle Gericht an Schlachttagen«, sagte Ouray. »Keine Sorge, es schmeckt nicht schlecht. Was hältst du davon, Currann?«
»Keine Einwände. Es ist gut, dass ihr euch schon Gedanken gemacht habt, je eher, desto besser«, sagte er auch als Anerkennung in Siris Richtung, in der Hoffnung, sie damit ein wenig aus der Reserve zu locken. Sie dankte ihm mit einem Nicken. Kein Erröten, kein hastiges Blickabwenden. Currann begann Hoffnung zu schöpfen, dass er nicht wieder einmal gegen eine ihrer Grenzen gestoßen war. Dabei spannte sie sich in Wahrheit innerlich an, ob er sie wieder mit einem dieser bohrenden Blicke bedenken würde, die ihr so unheimlich waren. Zu ihrem Glück blieb es aus.
Karya fand am Abend noch deutlichere Worte. Sie sah erschöpft aus, die Versammlung war schlimm gewesen. Kedar, der sich übergangen fühlte, hatte versucht, wieder die Führung zu übernehmen. Es hatte heftigen Widerstand gegeben, allen voran von Yorran und Evan. Schließlich war man übereingekommen, die Verteilung der Rationen wie bisher dem Mönch zu überlassen. Trotzdem war Kedar hinterher ins Schulhaus gestürmt und hatte sie mit schweren Vorhaltungen und wüsten Beschimpfungen traktiert. Sie mochte nicht daran zurückdenken und schob den Gedanken rasch beiseite, weil alle Kameraden darauf warteten, dass sie weitersprach.
»Dies ist nicht der erste Hungerwinter, den Branndar erlebt, doch so schlimm war es noch nie. Wenn der Hunger kommt, achtet darauf, dass Ihr Euch warm haltet. Geht nicht zu viel ins Freie und verschwendet nicht Eure Wärme. Besonders Ihr beide, Althan und Tajaeh, solltet nicht mehr so hart in der Schmiede arbeiten. Das hat doch Zeit bis zum Frühjahr. Schlaft auch nachts im Warmen, selbst wenn es Euch schwerfällt«, fügte sie in Kirals Richtung hinzu. Er deutete ein Nicken an zum Zeichen, dass er verstanden hatte.
Currann öffnete den Mund zum Protest und klappte ihn gleich wieder zu. Wenn Karya es schon so sagte, dann war es gewiss ernst.
»Karya, was wird geschehen?«, frage Yemon.
»Ihr habt so etwas noch nie erlebt, nicht wahr? Kiral, Ihr natürlich ausgenommen.« Alle nickten. Karya streifte Siri und den Kleinen mit einem traurigen Blick. »Ich kann es Euch nicht sagen. Es kommt darauf an, wie lange es dauert. Eines ist aber gewiss: Die Schwachen sterben zuerst.«
»Karya!«, rief Siri entsetzt. Sie drückte Nathan an sich.
»Tut mir leid, Kind. Ihr seid hier noch vergleichsweise gut dran. In der Siedlung sieht es schlimmer aus. Sie haben nur wenige Tiere, und die müssen sie alle schlachten. Dann mag es reichen, aber sicher ist es nicht.«
»Sagt Ihr uns, wenn Ihr etwas braucht?«, fragte Sinan mit besorgtem Gesichtsausdruck.
»Wir kommen schon zurecht, habt Dank.« Zu einem Lächeln mochte sie sich nicht durchringen, aber ihr Blick war dankbar. Bald darauf brach sie auf, begleitet von Sinan, der sie eingedenk der heutigen Ereignisse nicht allein im Dunkeln durch die Siedlung gehen lassen wollte.
Currann saß noch lange sinnend in der Diele. Trotz der schlimmen Neuigkeiten war er seltsam gelöst. Siri war aus sich herausgekommen und hatte sich lebhaft in das Geschehen eingemischt, ja, ihr war sogar zu verdanken, dass sie alle noch rechtzeitig gewarnt worden waren. Sie hatte in seiner Abwesenheit die Führung übernommen, ohne dass die anderen es bewusst gemerkt hatten. Er hegte die leise Hoffnung, dass sich, sobald er den Kommandantenraum betrat, ebenfalls etwas ändern würde, und war merkwürdig zögerlich, es herauszufinden. Schließlich war er allein und zwang sich, endlich nach nebenan zu gehen. Doch er wurde gründlich enttäuscht. Sie schwieg wie immer, und das, obwohl sie wie er keinen Schlaf fand und sich ruhelos auf ihrem Lager herumwälzte.
Als der Morgen anbrach, hielt er es nicht mehr aus. »Es tut mir leid.«
Das Rascheln nebenan verstummte abrupt. Sie lauschte, und Currann setzte sich auf. »Es tut mir leid, womit auch immer ich dich so verletzt habe, dass du nicht mehr mit mir reden magst«, fuhr er leise fort, doch er war sicher, dass sie jedes seiner Worte hörte. Ein kurzes Geräusch kam von nebenan. Hatte sie sich gesetzt? Oder wollte sie die Tür zuschlagen? Nein, die Tür blieb offen. Currann fasste Mut. »Siri, warum redest du nicht mehr mit mir? Mit den anderen kannst du es doch auch, und früher, da konntest du es doch auch mit mir. Warum nicht?«
»Bitte nicht«, kam es erstickt von nebenan. Currann war getroffen. Sie weinte ja! Was hatte er nun schon wieder getan? Am liebsten hätte er sich die Haare gerauft, aber er traute sich nicht, auch nur einen Finger zu rühren. »Siri?«
»Es.. es ist nicht deine Schuld. Es liegt an mir. Bitte dränge mich nicht, es dir zu erzählen. Ich kann es nicht! Lass mich einfach.. in Ruhe!« Die Tür flog mit einem Knall zu, und Nathan fing an zu brüllen. Currann starrte eine halbe Ewigkeit auf sie, bevor ihn Geräusche aus der Diele gemahnten, dass es längst Essenszeit war.
Siri erschien nicht zum Frühmahl, und auch später ließ sie sich nicht blicken. Besorgt gingen die Kameraden ihrem Tageswerk nach, trotz aller Mahnungen Karyas. Erst als sie alle fort waren, wagte sich Siri aus ihrer Kammer hervor. Sie würgte ein paar Löffel kalte Suppe herunter und überlegte nicht lange: Sich und Nathan warm eingepackt stieg sie auf einen der Türme hinauf. Sie stellte Nathan in seinem Körbchen in eine sonnige und windgeschützte Ecke und setzte sich selbst auf die Mauerkrone. Hier oben, die gleißende Weite vor sich und in all der Stille, konnte sie endlich befreit nachdenken.
Sie merkte erst, dass sie nicht mehr allein war, als Nathan plötzlich ein glucksendes Geräusch von sich gab, das er bisher noch nie gemacht hatte. Erstaunt fuhr sie herum und fand Kiral mit ihrem Sohn im Arm vor. »Das sollte wohl der Versuch eines Lachens sein. Das üben wir bei Gelegenheit noch mal, was?«, sagte er zu dem Kleinen.
Sie atmete erleichtert aus. »Schleichst du dich immer so an?«
»Das ist eine Cerinn Art. Ich kann es nicht ablegen. Siri, ist alles in Ordnung?« Sie traf ein unergründlicher Blick aus seinen schmalen Augen, doch Kiral kannte und vertraute sie genug, dass sie es nicht störte. Sie zögerte lediglich. »Weißt du, wir alle sehen, dass euch beide etwas bedrückt. Currann ist so in sich gekehrt wie noch nie zuvor und du..«
Читать дальше