Charlotte verzog zynisch die Lippen. »Dann appelliere ich an euer Rechtsverständnis, dass ihr euch auf meinem Grund und Boden befindet, Herzchen. Ich bin die rechtmäßige Erbin des Gutes. Streng genommen gehört das alles hier mir! Vergesst das nicht! Also erspar mir jetzt diese verlogene Doppelmoral von wegen Demokratie oder so. Ja, die Welt ist im Arsch. Und ja, es war nicht nett, euch nicht einzuweihen. Aber ich werde nicht darüber verhandeln, wie viele Nahrungsmittel und andere Dinge wir hier rausschaffen. Es sei denn ...« Charlotte sah Martina tief in die Augen. Das Lächeln um ihre Lippen wirkte hart. »Es sei denn, du trittst deine eigenen Ideale mit Füßen. Denk daran: Rechtlich gesehen befindet ihr euch auf meinem Grund und Boden. Und ich kann mit der Ernte machen, was ich will ...«
»Angesichts der Krise dürften dein Rechtsstatus und dein Erbe keine große Bedeutung mehr haben«, presste Leopold zwischen den Lippen hervor.
Charlotte verzog ironisch das Gesicht. »Aha. Demokratie und Rechtsstaat nach Bedarf. Leute, lasst es bleiben ...«
Martina zog Leopold am Arm. Ohne ein weiteres Wort verließen sie die Küche.
»Das gibt Stunk«, meinte Harald, der sich die ganze Zeit über zurückgehalten hatte.
Charlotte sah zum Fenster raus, wo einige der Kinder auf dem Hof spielten. Sie sah schwarz für die Zukunft. Einige der Eltern würden sich weigern, das Gut zu verlassen. Es hielten sich hier nicht wenige Idealisten auf, die Charlotte auf schier groteske Weise weltfremd erschienen. Gut Hohefeld, der Fels in der Brandung. All die schönen Gewächshäuser, die Beete, die bald reiche Ernte bringen würden, die vollhängenden Apfel- und Pflaumenbäume. Tja, mit etwas Fantasie, vielleicht zu viel davon, konnte man sich die Welt schönreden, zu schön - vielleicht.
»Und jetzt?«, fragte Erwin in die entstandene Stille.
»Wir bringen weiter so viele Nahrungsmittel weg, wie wir können. In den Tiefgeschossen des Flughafens ist es kühl genug, da verdirbt nichts.«
»Gut.« Erwin nickte. »Wann machen wir die nächste Tour?«
»Morgen. Heute Abend diskutieren wir ein bisschen, was natürlich überhaupt nichts bringen wird. Und morgen früh machen wir die nächste Fuhre. Ach so: Haltet die Augen offen! Ich will nicht, dass uns jemand folgt. Nachher spricht sich doch herum, wo unser Fluchtpunkt liegt.«
»Das wird früher oder später sowieso durchsickern«, meinte Harald.
»Sicherlich«, erwiderte Charlotte. »Aber lieber später als früher ...«
Charlotte begab sich später zu ihrer geliebten Eiche und ließ den Blick über das weite Land schweifen. In einer Stunde wurden die Gauleiter aus den Nachbardörfern erwartet. Sie wollte die Ruhe bis dahin genießen und für sich sein. Instinktiv ahnte sie, dass ihre Zeit auf dem Gut vorbei war. Und irgendwie wusste sie auch, dass sie es niemals wiedersehen würde. Wusste der Teufel, was noch geschehen sollte, aber Charlotte war sich sicher, dass ihre Zukunft nicht in Deutschland lag. Aber vielleicht war auch das nur Wunschdenken. Einmal zu oft hatte sie in letzter Zeit an Otis denken müssen.
Sie genoss den warmen Wind im Gesicht und hielt die Augen geschlossen. Das Gesicht von Otis erschien vor ihrem inneren Auge. Sie musste lächeln. Illusionen, sagte sie sich. Nichts als Illusionen.
Eines der Kinder war wie aus dem Nichts neben sie getreten und griff nach ihrer Hand. »Die Dorfvorsteher sind schon da«, sagte die kleine Emma. »Mama sagt, du musst kommen.«
Mama sagt, du musst kommen!, wiederholte Charlotte in Gedanken. Es hatte ihr noch nie gefallen, wenn jemand sagte: Du musst! Und das würde sich in diesem Leben wahrscheinlich nicht mehr ändern.
Sie lächelte Emma an und machte sich dann auf den Weg. Was freute sie sich auf den feisten Gustav, den verlogenen Egon, die intrigante Ottilie und all die anderen. Ach, wenn wir uns finden unter Linden ... Charlotte hätte kotzen können. Sie hatte es ja gewusst. Sie passte einfach nicht nach Deutschland. Aber das war ja auch nichts Neues ...
An Bord des Tarnkappenjets
Irgendwo über Polen
»Hast du die Leitstelle im Ohr, oder warum guckst du so komisch«, meinte Otis, der Jessica von der Seite her ansah. Der Flug verlief bis jetzt ereignislos: keine feindlichen Abfangjäger, keine technischen Probleme. Über den Wolken - schwarzes Nichts und da unten - nur totes Land mit wenigen Lebenszonen.
»Was?« Jessica schien in Gedanken gewesen zu sein.
»Du guckst so böse, als wäre etwas nicht in Ordnung.«
Jessica runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, aber wenn ich mir die Tankanzeige anschaue, passt das nicht mit den Hochrechnungen zusammen. Wir haben sehr viel mehr Kerosin verbraucht als erwartet.«
Otis zuckte mit den Achseln. »Aber bis nach Frankfurt schaffen wir es - oder?«
Jessica schürzte die Lippen. »Gerade so, normalerweise hätten die Tanks bei unserer Landung noch halb voll sein müssen. Aber wie es jetzt aussieht, können wir froh sein, überhaupt noch Sprit zu haben, wenn wir runtergehen.«
Otis sah sie nachdenklich an. »So schlimm? Haben wir vielleicht ein Leck, von dem wir nichts mitbekommen haben?«
»Ich denke nicht. Ich habe mir die Statistiken mal angesehen. Der Landeschub hat sehr viel mehr Sprit gekostet, als hier in den Spezifikationen angegeben ist. Die Kiste ist ein Prototyp. Ich will nicht ätzen, aber mir scheint, die Eierköpfe haben sich da ganz gehörig verrechnet.«
»Hast du schon Kontakt mit der Festung?«, fragte Otis.
»Nein. Ich versuche es in ein paar Minuten noch einmal. Vielleicht müssen sie mal wieder einen Angriff von Zombies abwehren - oder von diesen komischen Marodeuren. Die in der Festung dürften beschäftigt sein. Abgesehen davon - wir können auch ohne Einweisung landen. Unser Oberschlaumeier von Autopilot wird das machen. Und zur Not bringe ich die Kiste auch manuell runter.«
Otis nickte. »Und Cleveland?«
»Nichts. Alles wäre okay, der Leitstrahl steht. Wir sollen weiter nach Plan vorgehen - alles Weitere später ... Die haben auch keinen Kontakt mehr zur Festung. Aber auch das ist nichts Neues. Wird ja langsam zum Dauerzustand. Die Zeit der festen Verbindungen dürfte vorbei sein. Wir können froh sein, dass wenigstens die Militärsatelliten noch arbeiten, wobei die Betonung wohl auf noch liegt …«
Otis lächelte. »Tja, wir sind nur zwei unterbezahlte Agenten, die eine wertvolle Fracht eskortieren. Was macht denn unser Herzchen?«
Jessica sah nach hinten, wo Linda Carruthers auf ihrer Liege ruhte.
»Nichts. Schläft nach wie vor tief und fest. Hin und wieder grunzt sie zwar komisch, aber was soll´s. Vielleicht hat sie Albträume.«
Otis schwang nachdenklich mit seinem Sitz herum und sah zu der Astronautin, die sich monatelang auf der ISS aufgehalten hatte. Etwas Schweiß perlte auf der Stirn der Frau. Sie sah nicht gut aus. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass sie über Monate hinweg der Schwerelosigkeit ausgesetzt war. Die Muskeln bildeten sich unglaublich schnell zurück, das konnte selbst das regelmäßige Training an Bord der Raumstation nicht kompensieren, zumindest nicht ganz.
Carruthers stieß plötzlich einige seltsame Laute hervor, beruhigte sich aber gleich darauf wieder.
»Das hat sie schon ein paar Mal gemacht, als du geschlafen hast«, sagte Jessica. »Wüsste ich es nicht besser, würde ich behaupten, da liegt ein grunzender Untoter …«
»Klingt wirklich nicht gut«, meinte Otis.
Jessica zuckte mit den Achseln. »Na ja. Was weiß ich, wie man sich fühlt, wenn man monatelang da oben in der Umlaufbahn war. Normalerweise müsste sie sich jetzt einem aufwendigen Aufbautraining unterziehen. Egal ... Wir sind ja bald zurück in den Staaten. Von Frankfurt aus werden wir dann mit Vollschub die Nordroute über Island nehmen. Das hat die Kontrolle vorhin durchgegeben. Wir gehen auf Maximalhöhe und Höchstgeschwindigkeit. Ich glaube, die wollen noch was testen …«
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