»Damit«, sagte Jessica und wies nach Westen, wo ein schwarzer Fleck schnell größer wurde. Einige Minuten später setzte der ferngelenkte Jet in der Steppe auf. Die Turbinen verstummten, und die Luke öffnete sich. Momente später schob sich die Leiter nach unten.
Und jetzt einfach nach Hause fliegen ..., dachte Otis. Ein mehr als ungutes Gefühl hing ihm im Nacken. Nein, so funktionierte die Welt nicht. Und das hatte nichts damit zu tun, dass er durch seine Geheimdienstarbeit zum Zyniker und Skeptiker geworden war. Er sah kurz zu Jessica, der es ähnlich zu ergehen schien.
Sie hatte erwartet, das Grichenko sie mehr oder minder ins Bett ziehen wollte, doch auch mit ihm war alles anders gekommen. Er hatte sich wie ein wahrer Gentleman verhalten und war auf Distanz geblieben. Keine dummen Sprüche, keine blöde Anmache.
Sie bestiegen schweigend den Jet. Carruthers legte sich auf eine der Liegen im hinteren Teil des Cockpits und war nach wenigen Minuten eingeschlafen.
Otis saß schweigend neben Jessica und starrte durch die Cockpitscheiben. Jessica kontrollierte die Schaltungen und aktivierte den Funk, doch noch schwieg Cleveland in ihrem Ohrhörer. Lediglich ein Bereitschaftszeichen ließ erkennen, dass die Leitung nicht tot war. Dann meldete sich die Funkleitstelle.
»Wo hattet ihr den Jet versteckt?«, fragte Jessica nach den üblichen Begrüßungsfloskeln.
»Fast hinterm Haus.« Die Stimme in ihrem Ohr klang belustigt. »Die neue Tarnverspiegelung ist allererste Sahne. Gab es Probleme? Habt ihr die Leute?«
Otis schaltete sich in das Gespräch ein. Er berichtete gerafft, dass nur Carruthers mit zurückkommen würde. In Cleveland schien niemand misstrauisch zu sein. Vielmehr zeigten sich zwei der Wissenschaftler, die mithörten, begeistert darüber, dass auch in Kasachstan an einem möglichen Mittel geforscht werden würde. Besonders angetan war man über den Umstand, dass Romanow Timjonow, der berühmte Genetiker, noch lebte und die Forschungsgruppe leitete.
Wenig später hob der Jet ab. Kein Angriff. Nichts. Es kam auch kein Funkspruch aus dem getarnten Stützpunkt, von dem man immer noch nicht wusste, wo er sich befand. Otis, Jessica und Linda Carruthers saßen im hinteren Teil des Transporters, als man sie aus dem Stützpunkt brachte. Eine Plane verdeckte den Blick nach draußen. Alles, was sie wussten, war, dass sich der Stützpunkt nicht sehr weit vom Landeplatz der Sojuskapseln entfernt befinden konnte. Die Fahrt hatte kaum eine Viertelstunde gedauert, und das mit nur mäßiger Geschwindigkeit, da der Weg durch die Steppe sehr holprig war.
»Jessica, war dieser Timjonow eigentlich irgendwo im Stützpunkt zu sehen?«, fragte Otis nach einigen Minuten.
»Ja, er war da. Ich konnte ihn, zusammen mit anderen Wissenschaftlern, in einem Konferenzraum sehen. Er hielt einen Vortrag.«
»Konntest du etwas verstehen?«
»Wenig. Nur, dass er guter Dinge ist, dass es dem Team gelingen wird, einen Wirkstoff zu entwickeln.«
»Also auch hier - alles Friede, Freude, Eierkuchen, was?«
Jessica zuckte schwach mit den Achseln. Erneut umfasste ihre rechte Hand den Joystick, obwohl die Fernsteuerung jedes Eingreifen überflüssig machte.
»Mir ist noch etwas eingefallen, was Timjonow angeht«, sagte sie einen Moment später. »Er gilt nicht nur als Ausnahmekapazität im Bereich der Genetik - er gilt auch als Eugeniker, der einige Prozesse ausfechten musste. Er hat immer wieder geleugnet und sich auf seine wissenschaftliche Arbeit berufen.«
Otis schürzte die Lippen. »O Jess. Sehen wir Gespenster? Oder sind wir blind? Oder paranoid? Das waren die seltsamsten drei Tage meines Lebens. Nichts ist so verlaufen, wie ich es erwartet hätte. Kein böser Obermilitär, kein Messer an der Kehle, nichts ...«
»Ich weiß, was du meinst. Ich habe auch kein gutes Gefühl.« Sie schwenkte mit ihrem Sitz herum und sah zu Linda Carruthers, die leise vor sich hin schnarchte.
»Haben wir ein trojanisches Pferd an Bord?«, fragte Otis und sprach damit das aus, was Jessica dachte. Sie erwiderte nichts darauf. Trotzdem würde sie - und bestimmt auch Otis - Carruthers im Auge behalten.
General Vladimir Dimitrov stand zusammen mit dem Ausnahmegenetiker Romanow Timjonow an der verspiegelten Wand und sah zu den Crewmitgliedern der ISS, die auf speziellen Liegen ruhten. Einige Pfleger und Schwestern kontrollierten die medizinischen Apparate. Alle Kontrolllampen standen auf Grün, Blutdruck und Pulswerte der Astronauten bewegten sich im normalen Toleranzbereich. Alles wirkte normal.
»Glauben Sie wirklich, dass es uns gelingen wird, ein Antiserum zu entwickeln?«, fragte der General nach einer Weile. Er mochte den Genetiker nicht. Timjonow galt als Eugeniker der alten Schule. Ihm schwebte ein weißes russisches Reich vor: starke Männer und Frauen, die dem Rest der Welt überlegen waren.
Von welchem Rest ..., fragte sich Dimitrov. Es war ja so gut wie nichts mehr übrig.
»Nicht nur ich glaube daran, auch mein Team ist davon überzeugt. Wir werden ein Gegenmittel finden, und dann können wir die Sowjetunion zu altem Glanz erstrahlen lassen. Es wird eine neue Sowjetunion sein, die größer und mächtiger sein wird, als jemals zuvor. Sie können sicher sein, General, die Oligarchen werden zufrieden sein!« Timjonow lächelte verschlagen.
Dimitrov erwiderte nichts darauf. Er selbst galt als Hardliner, der gegenüber den USA von jeher einen harten Kurs gefahren hatte, doch er war kein Fantast.
»Was geschieht jetzt mit den Besatzungsmitgliedern der ISS?«
Timjonow schürzte die Lippen. »Nichts. Sie bekommen blutbildende Medikamente. Sie werden schlafen. Lange schlafen. Und wir werden genügend Blut haben, womit wir weiter forschen können. Wir stehen erst am Anfang, aber wir sind hier sicher. Mag die Welt dort draußen untergehen, wir werden überleben! Bis zum entscheidenden Tag!«
Timjonow lächelte Dimitrov plötzlich mitleidig an. »Es passt Ihnen nicht, dass die Oligarchen mich de facto zu Ihrem Vorgesetzten gemacht haben, nicht wahr? Einen Wissenschaftler … Haben wir ein Problem, mein lieber General?«
»Spielt es eine Rolle, was ich denke oder nicht denke?«, hielt Dimitrov dagegen. Ihn überkam ein unbändiges Verlangen, diesem arroganten Wissenschaftler die Zähne einzuschlagen. Er ging davon aus, dass Timjonow das wusste.
Timjonows Lächeln wirkte kalt. »Mütterchen Russland wurde in den Jahren nach dem Kalten Krieg einmal zu oft gedemütigt. Glasnost und Perestroika ...« Er spuckte die Worte fast aus. »Wir haben gebuckelt, vor den Amis und Chinesen gekuscht. Aus Afghanistan sind wir rausgeflogen. Eine Niederlage folgte auf die nächste. Aber der Wind hat sich gedreht. Es ist ein neues Zeitalter hereingebrochen, und diesmal werden wir am Drücker sein.«
»Wen wollen wir denn beherrschen, wenn die Welt nur noch aus Untoten besteht?«, fragte Dimitrov.
»Das wird sie nicht, Genosse General. Das wird sie nicht. Wir werden ein Gegenmittel finden - und wir werden es verkaufen. Es wird uns zur wohlhabendsten und mächtigsten Nation - ich korrigiere mich, zum mächtigsten Volk und zur mächtigsten Rasse auf diesem Planeten machen. Und vergessen sie diesen ganzen kommunistischen Blödsinn. Er war schuld an unserem Niedergang. Wir hätten uns zum Kapitalismus bekennen sollen. Zu einem Kapitalismus des weißen Russlands. Und ...«
Timjonow redete immer weiter. Dimitrov hörte schon lange nicht mehr zu. Ihm waren die Hände gebunden. Er musste die Befehle befolgen, nicht nur um seinetwillen, sondern ob seiner Familie. Seine Frau und seine beiden Kinder waren in Sicherheit. Sie lebten. Doch das konnte sich sehr schnell ändern, wenn er sich den Anweisungen widersetzte. Das wusste er. Noch lebten sie einigermaßen sicher im Randgebiet von Scheskasgan. Die Zone war stark bewacht - und gut versorgt. Es herrschte kein Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser oder Medikamenten. Auch dafür sorgten die Oligarchen, genauso wie für die großen Lebenszonen in Omsk.
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