»Wie besorgt ihr euch euer Essen?«, fragte Erwin übergangslos.
Sammy sah ihn etwas verlegen an. »Nun, wir sind nur zu dritt. Als das Internet noch funktionierte, habe ich mich bei der Versorgungsstelle in der Festung gemeldet und gesagt, dass es auf dem Hahn noch mehrere Überlebende gibt. Die haben darauf eine vollgepackte Drohne geschickt. Lebensmittel für eine kleine Siedlung - für uns drei hat das allemal gereicht.«
»Moralisch auch nicht ganz sauber«, stellte Harald mit säuerlichem Blick fest.
»Aber effizient«, bemerkte Erwin. »Und nicht dumm. Wenn die in Frankfurt nicht fragen, wie viele Leute sich hier aufhalten, soll das nicht das Problem von den Dreien sein. Ich finde es ganz clever.«
Charlotte verzog das Gesicht. »Ja - war mal clever, die Idee. Aber wenn die Festung wirklich in der Hand der Marodeure ist - wovon wir ausgehen müssen - dann werden sie auch über kurz oder lang hier auf dem Hahn auftauchen. Schon vergessen? Du hast doch selbst vermutet, dass sie die Datenbanken oder Listen auswerten, wer mit der Festung Handel betrieben hat. Man weiß also, dass sich auf dem Hahn jemand aufhält ...«
Erwin presste die Lippen aufeinander. »Daran hab ich eben nicht mehr gedacht.«
Die kleinere der Frauen, Silvia, sah Charlotte entsetzt an. »Die werden kommen, obwohl es hier nichts zu holen gibt?«
»Davon gehen wir aus. Unser Gut dürfte die erste Anlaufstation sein. Und was man von den Marodeuren so hört, lässt das Schlimmste ahnen. Die werden auch auf dem Hahn auftauchen. Über kurz oder lang - und totsicher ...«
Es entstand eine kurze Pause.
»Dann müssen wir hier weg«, sagte Sammy schließlich.
»Wollten wir ja«, erwiderte Harald. »Aber von den Scheißmaschinen hier kriege ich keine mehr flott. Ich bin Pilot, kein Techniker oder Ingenieur. Es ist zum aus der Haut fahren ...«
Sandra fing an zu weinen. Sylvia nahm sie in den Arm und rieb ihr sanft über den Rücken.
»Habt ihr noch einen Alternativplan?«, fragte Sammy.
Charlotte schüttelte resigniert den Kopf. Was sollten sie jetzt tun? Wo sollten sie hin?
»Und wenn wir uns auf den Weg nach Norden machen?«, fragte Erwin.
»Bloß nicht«, meinte Sylvia schnell. »Der Ruhrpott ist dicht, die Autobahnen verstopft. Vielleicht wäre es möglich, irgendwie über Seitenstraßen nach Norden zu kommen, aber was sollen wir dort? Niedersachsen schweigt schon ewig, und von Hamburg hört man auch nichts mehr.«
»Und im Westen auch nichts Neues«, meinte Harald. »Wir stecken in der Scheiße - und das voll. Scheißmarodeure.«
»Und wenn wir mit ihnen verhandeln?«, fragte Sammy. »Unsere Arbeitskraft anbieten, was weiß ich ...«
Charlotte sah ihm in die Augen. »Die wollen herrschen! Die wollen Sklaven, Untertanen! Willst du, dass dich irgendjemand zwingt, einem anderen die Kehle durchzuschneiden - auf Befehl ...?«
Sammy erwiderte nichts.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Harald nach Minuten des Schweigens.
Ein Ruck schien durch Charlotte zu gehen.
»Wir schaffen alles an Lebensmitteln und sonstigen Vorräten auf den Hahn. Ich spekuliere jetzt mal einfach, dass sie den Hahn erst sehr viel später angreifen werden als die Dörfer und vor allem das Gut. Wenn die Plünderer wirklich zu den Marodeuren gehören, gehe ich davon aus, dass sie noch einige Zeit länger denken, dass hier nichts mehr zu holen ist. Gut, sie werden kommen, aber bis dahin können wir uns hier eingerichtet haben.«
»Du willst das Gut aufgeben?«, fragte Erwin überrascht. »Das heißt, uns gehen über kurz oder lang die Nahrungsmittel aus und wir sitzen hier auf dem Trockenen ...«
Charlotte stemmte die Arme in die Seiten. »Aber wir leben! Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie es bald auf dem Gut aussehen wird. Unsere Leute schuften auf den Feldern, rackern sich ab - und bekommen gerade genug, um zu überleben. Und wenn es diesen Drecksäcken von Marodeuren Spaß macht, wird irgendeiner gequält oder getötet. Wir können von diesem Pack nichts erwarten - nichts Gutes, nichts Menschliches.«
Harald schürzte die Lippen. »Ich denke auch, dass es einige Zeit dauern wird, bis sie hier auftauchen werden. Das Gut und die umliegenden Dörfer geben ein besseres Ziel ab, vor allem ein ertragreicheres.« Er grinste plötzlich böse. »Wenn wir Glück haben, legen sich die selbst ernannten Gauleiter ja mit den Marodeuren an und verschaffen uns so etwas Luft. Mit allem Glück der Welt gehen die sich gegenseitig an die Kehle - und wir werden die lachenden Dritten sein.«
»Wenn wir Glück haben, sehr viel Glück«, sagte Charlotte in ätzendem Tonfall. »Leider glaube ich nicht so recht daran. Ich denke, es ist Zeit, aufs Gut zurückzukehren und die Leute zu instruieren.« Sie wollte sich in Bewegung setzen, doch Erwin hielt sie am Ärmel zurück.
»Du willst den Leuten auf dem Gut sagen, dass wir auf den Hahn übersiedeln?«
Charlotte sah ihm in die Augen. »Irgendwann müssen sie ja erfahren, was auf sie zukommt.«
»Schlechte Idee«, meinte Harald.
Erwin nickte zustimmend. »Nicht alle werden mitkommen wollen, Charlotte, da kannst du sicher sein. Ich finde, wir sollten den Fluchtpunkt Hahn so lange wie möglich geheim halten. Für den Anfang bleibt das unter uns. Eckhard und Susanne und ihre alternative Truppe werden die Beete und Felder nicht einfach so aufgeben. Sie werden bleiben wollen. Sie werden sich möglicherweise sogar mit den Marodeuren anlegen. Sie werden gefoltert, vielleicht getötet - aber zuvor werden sie verraten, wo sich der Rest von uns hingeflüchtet hat. Nein, wir warten noch damit, sie zu informieren ...«
Charlotte wollte aufbegehren, doch Erwin winkte ab. Da war nichts mehr von dem naiv erscheinenden Mann, da war ein eiskalter Taktiker. »Wir werden schweigen, Charlotte - ob es uns gefällt oder nicht. Wenn das Gut den Bach runter geht, will ich so viel Vorsprung wie möglich haben, bevor irgendein Trupp der Marodeure auf dem Hahn erscheint. Die Marodeure sind ein wahnwitziger Mix aus Reichsbürgern, Neonazis und weiß der Teufel noch was. Die glauben an ihre Sache, fühlen sich stark - und sie gehen über Leichen.«
Charlotte schluckte. »Also schweigen - bis zum Schluss.«
Erwin nickte ihr und Harald zu.
Eine halbe Stunde später machten sie sich auf den Rückweg. Drei Untote mussten ausgeschaltet werden, die sich dem Jeep genähert hatten, doch das war nur ein Klacks gemessen an dem, was die Zukunft bringen sollte. Untote waren da fast harmlos, langsam, träge, dämlich - aber die menschliche Gefahr, das Raubtier, nahte lautlos aus dem Dunkel. Irgendwann würde es brüllen und sein Opfer reißen. Bald.
USA
Lake Winnepesaukee / New Hampshire
»Und ihr seid sicher, dass da wieder jemand am Ufer war?«, fragte Huntington.
Leo, Candys Sohn, verdrehte die Augen. »Janet und ich spinnen doch nicht. Die hätten fast Mary-Anns Motorrad entdeckt, das konnte ich durch das Fernglas ganz genau sehen.« Die Stimme des Jungen klang empört. Janet, seine Schwester, nickte zustimmend.
»Und - haben sie möglicherweise auch euch gesehen?«, fragte Mary-Ann vorsichtig. Sie sah kurz zu Candy, die mit versteinerter Miene ihre Waffe reinigte. Es war ein Ritual, dem sie in den letzten Tagen wieder regelmäßig nachkam.
Leo verdrehte erneut die Augen. »Es ist wirklich komisch, dass Erwachsene Kinder immer für blöd halten. Wir haben uns im Gebüsch versteckt. Die Motorräder der Leute waren ja nicht zu überhören. Wir sind nicht so naiv, wie ihr immer annehmt. Wir wissen schon, was da draußen los ist ...«
Leider, dachte Candy. Leider wussten die beiden, dass die Welt, wie sie sie einmal kannten, in ihrem kurzen, jungen Leben, nicht mehr existierte.
»Gut«, sagte Huntington. »Und ihr könnt sicher sein, niemand hält euch für blöd. Das habt ihr gut gemacht. Lust zu spielen?«
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