Die Kinder blickten in Fahrtrichtung. Janet hielt eine weiße Fahne, die im Wind flatterte, Leo balancierte einen großen Karton auf den Knien, auf dem in großen Lettern Reden, Frieden, Freund geschrieben stand. Huntington stöhnte. Er absolvierte mittlerweile zwar regelmäßig ein Fitnessprogramm, doch rudern gehörte nicht zu seinen bevorzugten Übungen. Die Schultern taten ihm weh, doch er ignorierte den Schmerz. Etwas half ihm das ganze Adrenalin, das durch seinen Körper strömte. Er war nervös, obwohl er es nicht zeigte. Das Ufer war noch geschätzte fünfzig Meter entfernt, als ein Mann aus dem Gebüsch trat. Kurz darauf erschien an seiner Seite ein Kind.
Huntington keuchte. Insgeheim erwartete er einen Schuss vor den Bug. Damit wäre die Aktion zu Ende. Er hatte Candy versprochen, in diesem Fall sofort umzukehren. Janet und Leo begannen zu winken. Janet schwenkte die weiße Fahne und Leo hielt den Karton mit der Nachricht in die Höhe.
»Passt auf, dass ihr nicht ins Wasser fallt!«, presste Huntington zwischen den Lippen hervor. Sein Atem ging rasselnd. Jeder einzelne Knochen schien ihm wehzutun.
Der Mann und das Kind am Ufer warteten ab. Huntington registrierte befriedigt, dass der Mann die Waffe gesenkt hielt. Das Kind, es war ein Junge, wie jetzt zu erkennen war, winkte zum Boot und schwenkte dann die Arme. Offensichtlich freute er sich, auf andere Kinder zu stoßen.
Janet schwenkte begeistert die Fahne und wäre fast ins Wasser gefallen, wenn Leo sie nicht im letzten Moment festgehalten hätte.
Huntington spürte, wie ihm die Kräfte schwanden. Seine Muskeln brannten wie Feuer, jeder Atemzug tat weh. Endlich hatten sie das Ufer erreicht.
»Bleibt noch im Boot«, keuchte Huntington, als Janet und Leo ins seichte Wasser springen wollten.
Der Mann und der Junge kamen auf sie zu.
Huntington lächelte und sah dem Mann ins Gesicht. Durchtrainiert, wachsamer Blick, aber keine Feindseligkeit ... Er registrierte das Misstrauen in den Augen seines Gegenübers, dann jedoch reichte der Mann Huntington die Hand und half ihm, aus dem Boot zu steigen. Das war für Janet und Leo das Signal, zu dem Jungen zu laufen. Er hatte in einigem Abstand gewartet, offensichtlich auf Anweisung seines Vaters. Die drei Kinder kamen schnell ins Gespräch. Sie schienen sich zu mögen.
Huntington krümmte sich und beugte sich nach vorne. Für einen Moment war ihm die Luft weggeblieben. Er hatte weiche Knie. Erst jetzt bemerkte er, wie ausgepumpt er sich fühlte. Er hatte sich völlig verausgabt.
Als er wieder zu Atem kam und sich aufrichten konnte, sagte er zu dem Mann: »Wir müssen reden.«
Der Mann nickte. Er wirkte sehr nachdenklich. »Die Fremden ...«
Huntington blickte ernst. »Ja.« Offensichtlich hatte nicht nur ihre Gruppe die Anwesenheit der anderen am Ufer mitbekommen. Ein Anfang war gemacht.
12 Schatten der Marodeure
Deutschland
Gut Hohefeld
Charlotte, Erwin und Harald hielten sich in der Küche von Gut Hohefeld auf, als Leopold und Martina mit vor Wut funkelnden Augen den Raum betraten und vor dem großen Küchentisch stehen blieben, an dem die drei Gefährten Platz genommen hatten.
»Wo schafft ihr die Lebensmittel hin!«, stieß Martina hervor. »Dealt ihr mit den Nachbardörfern? Macht ihr euer eigenes Ding?« Leopold stand mit verschränkten Armen neben der temperamentvollen Rothaarigen, sagte aber nichts.
Erwin verzog die Lippen, und Harald sah betreten zu Boden.
Charlotte sah Martina in die Augen. »Wir dealen bestimmt nicht, und wir stehlen auch nichts. Aber okay - wir bringen Nahrungsmittel und Ausrüstung weg.«
Martina glaubte, sich verhört zu haben. »Aha. Und wann hättet ihr uns Bescheid gesagt? Es gibt wilde Spekulationen, dass hier krumme Geschäfte mit den Nachbardörfern laufen. Verdächtigungen machen die Runde. Das ist nicht gut. Also - was soll das?«
»Es ist so weit«, sagte Erwin. »Los! Erzähl ihnen von den Marodeuren. Es macht keinen Sinn mehr, noch länger schweigen zu wollen.«
»Das denke ich auch«, pflichtete ihm Leopold bei, dessen Stirn sich in Falten gelegt hatte.
»Also es ist so ...«, begann Charlotte. In kurzen Worten berichteten sie und Erwin abwechselnd von den Marodeuren, die offensichtlich die Kontrolle über die Festung Frankfurt übernommen hatten und dass ein Angriff auf das Gut nur noch eine Frage der Zeit war. Als sie mit ihrer Schilderung fertig waren, sahen Martina und Leopold betreten in die Runde.
»So schlimm?«, fragte Martina ungläubig. »Aber vielleicht können wir mit denen verhandeln, und ...«
Charlotte unterbrach sie. »Nein. Die werden nicht mit uns verhandeln. Die werden sich nehmen, was sie brauchen, ob es uns passt oder nicht.«
»Und wo schafft ihr die Lebensmittel und die Ausrüstung hin?«, fragte Leopold.
Charlotte warf Erwin und Harald einen schnellen Blick zu. »Das werdet ihr und die anderen erst erfahren, wenn es so weit ist und wir den Absprung hier machen.«
»Blödsinn!«, presste Leopold zwischen den Lippen hervor. »Sag mal, treibst du hier falsches Spiel - oder was? Ihr karrt das ganze Zeug weg. Und wir sollen euch einfach so vertrauen. Für wie blöd haltet ihr uns? Wer garantiert mir denn, dass ihr nicht irgendwann die Flatter macht und uns hier alleine zurücklasst.«
»Haben wir nicht vor«, wehrte Charlotte ab. »Aber es bleibt dabei. Der Fluchtpunkt bleibt vorerst geheim.«
Leopold zitterte vor Wut. Martina legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Und wann wollt ihr die anderen informieren? Oder hattet ihr das nicht vor?«
Charlotte wirkte zerknirscht. Ihr war klar gewesen, dass es über kurz oder lang auffallen würde, wenn immer mehr Nahrungsmittel und Ausrüstungsgegenstände aus dem Gut verschwinden würden, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so bald geschehen würde. Erwin kam ihr zur Hilfe.
»Martina, Leopold - sagt den anderen Bescheid, dass wir am Nachmittag eine Versammlung abhalten werden. Ich gehe noch mal an den Kurzwellenempfänger und höre mich um, ob ich etwas Neues über den Status von Frankfurt herausbekommen kann. Vielleicht funktioniert auch ein Onion-Knoten im Tor-Netz. Ich weiß es nicht, aber die Generatoren laufen, und wir haben Strom. Wir machen reinen Tisch, versprochen!«
Leopold verzog die Lippen. »Und was ist mit der Abordnung der Nachbardörfer? Die wollen ebenfalls neu verhandeln. Und sie üben immer mehr Druck aus. Der liebe Gustav möchte gerne Oberortsvorsteher werden - und das schließt auch das Gut ein … Bald haben wir hier überhaupt nichts mehr zu sagen.«
Charlotte lachte erstickt auf. »Verhandeln? Die Herren Gauleiter wollen die Daumenschrauben anlegen ... Aber, warum eigentlich nicht? Am besten machen wir reinen Tisch und weihen sie ein. Vielleicht können wir zusammen etwas gegen die Marodeure auf die Beine stellen.« Sie glaubte zwar selbst nicht daran, doch sie wollte Zeit gewinnen. Charlotte war Realistin. Sie wusste jetzt schon, dass nur wenige das Gut verlassen würden. Einige würden so naiv sein und glauben, sie könnten gegen die Angreifer etwas ausrichten. Und die von der Friedensfraktion, die nach wie vor an das Gute im Menschen glaubten, würden auf endlose Verhandlungen setzen, als befänden sie sich in einem Debattierklub. Aber so funktionierte die Welt nicht mehr - zumindest nicht, wenn an den Geschichten, die Erwin über Kurzwelle mitgehört hatte, etwas dran war. Und genau daran glaubte Charlotte. Erwin war kein Spinner, und er war auch nicht übermäßig ängstlich. Das Böse hatte die Welt in mannigfaltiger Form erfasst - und es waren nicht die Untoten, die die größte Gefahr darstellten, zumindest nicht hier auf dem Gut.
»Und was ist, wenn wir demokratisch abstimmen, dass ihr keine Nahrungsmittel mehr wegbringt?«, fragte Martina, als sie und Leopold die Küche verlassen wollten.
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