Dann stieg Dick den ganzen Weg bis nach Montreux hinab, um im See zu schwimmen, und kam rechtzeitig zum Dinner ins Hotel zurück. Dort erwarteten ihn zwei Briefchen.
»Ich bereue den gestrigen Abend nicht – es war das Schönste, was ich je erlebt habe, und selbst wenn ich Sie niemals wiedersehen würde, Mon Capitaine, wäre ich glücklich, daß es geschah.«
Das war ziemlich entwaffnend – der drohende Schatten von Dohmler wich, und Dick öffnete den zweiten Umschlag:
»Lieber Doktor Diver: Ich rief Sie an, aber Sie waren nicht da. Dürfte ich Sie um einen großen Gefallen bitten? Unvorhergesehene Umstände rufen mich nach Paris zurück, und ich kann Zeit sparen, wenn ich über Lausanne reise. Können Sie Nicole bis nach Zürich mitnehmen – da Sie doch am Montag zurückfahren – und sie im Sanatorium absetzen? Oder ist es zuviel verlangt?
Mit bestem Gruß
Beth Evan Warren.«
Dick war wütend – Fräulein Warren hatte gewußt, daß er sein Fahrrad dabei hatte, doch hatte sie ihren Brief so abgefaßt, daß eine Weigerung unmöglich war. Uns verkuppeln! Liebe Verwandtschaft und das Warrensche Geld!
Er irrte sich; Baby Warren hatte keineswegs solche Absichten. Sie hatte Dick mit nüchternen Blicken gemustert; sie hatte ihn mit dem verdrehten Maßstab der Englandfreundin gemessen und hatte ihn unzulänglich befunden – trotz der Tatsache, daß sie ihn nett fand. Aber ihr war er zu »intellektuell«, und sie reihte ihn ein in eine Kategorie mit Leuten von schäbiger Eleganz, die sie früher in London kennengelernt hatte. Er war zu temperamentvoll, um wirklich gesellschaftsfähig zu sein. Sie wußte nicht, wie sie ihn mit ihrem Begriff von Aristokraten in Einklang bringen sollte.
Dazu kam, daß er widerspenstig war – sie hatte beobachtet, wie er ein halbes dutzendmal ihrer Unterhaltung auswich und sich hinter seine Augen zurückzog, in der merkwürdigen Art, die manche Leute an sich haben. Ihr hatte Nicoles freies, ungezwungenes Wesen als Kind nicht gefallen; und jetzt hatte sie sich bewußt daran gewöhnt, sie als ein rettungslos verlorenes Wesen zu betrachten; jedenfalls war Doktor Diver nicht die Sorte Arzt, die sie sich in ihrer Familie vorstellen konnte.
Sie wollte sich seiner nur in aller Einfalt als Bequemlichkeit bedienen.
Aber ihre Bitte hatte die Wirkung, daß Dick ihr die Absicht unterstellte. Eine Eisenbahnfahrt kann eine schreckliche, eine traurige oder eine komische Angelegenheit sein; sie kann eine probeweise Flucht darstellen; sie kann ein Vorgeschmack auf eine andere Reise sein, so wie irgendein Tag mit einem Freund lang sein kann, angefangen mit dem Gefühl der Eile am Morgen bis zur Wirklichkeit des gemeinsamen Hungers und des gemeinsamen Essens. Dann kommt der Nachmittag, an dem die Reise welkt und stirbt, sich aber am Ende wieder belebt. Dick stimmte es traurig, Nicoles kärgliche Freude zu sehen; dennoch war es ein Trost für sie, in das einzige Heim zurückzukehren, das sie kannte. An diesem Tag tauschten sie keine Zärtlichkeiten, aber als er sich vor dem traurigen Eingangstor am Zürichsee von ihr trennte und sie sich umwandte und ihn ansah, wußte er, daß ihr Problem von nun an für sie beide ein gemeinsames war.
Zweites Buch
Im September war Doktor Diver zum Tee bei Baby Warren.
»Es ist ein unbesonnener Schritt«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob ich Ihre Motive richtig verstehe.«
»Wir wollen es lieber unterlassen, uns unangenehme Dinge zu sagen.«
»Schließlich bin ich Nicoles Schwester.«
»Das gibt Ihnen nicht das Recht, unangenehme Dinge zu sagen.« Es verwirrte Dick, daß er so vieles wußte, was er ihr nicht sagen konnte. »Nicole ist reich, aber deshalb bin ich noch kein Abenteurer.«
»Das ist es eben«, betonte Baby eigensinnig. »Nicole ist reich.«
»Wieviel Geld hat sie denn genau?« fragte er.
Sie fuhr hoch, aber er versetzte mit leisem Lachen: »Sehen Sie jetzt, wie albern das ist? Ich würde gern mit einem Mann in Ihrer Familie sprechen –«
»Ich habe über alles zu entscheiden«, beharrte sie. »Nicht, daß wir Sie für einen Abenteurer hielten. Wir wissen nicht, wer Sie sind.«
»Ich bin Doktor der Medizin«, sagte er. »Mein Vater ist Geistlicher im Ruhestand. Wir haben in Buffalo gelebt, und meine Vergangenheit ist für Nachforschungen zugänglich. Ich habe in New Haven studiert und erhielt anschließend ein Rhodes-Stipendium. Mein Urgroßvater war Gouverneur von Nordkarolina, und ich bin ein direkter Nachkomme von dem verrückten Anthony Wayne.«
»Wer war der verrückte Anthony Wayne?« fragte Baby mißtrauisch.
»Der verrückte Anthony Wayne?«
»Ich finde, in dieser Angelegenheit gibt es schon genug Verrücktheit.«
Er schüttelte resigniert den Kopf, gerade als Nicole auf die Hotelterrasse heraustrat und sich nach ihnen umsah.
»Er war zu verrückt, um so viel Geld zu hinterlassen wie Marshall Field«, sagte er.
»Das ist alles ganz gut und schön –«
Baby hatte recht und wußte es. Ihr Vater wäre bei einer Gegenüberstellung fast jedem Geistlichen überlegen gewesen. Sie waren eine amerikanische Herzogsfamilie ohne Titel – ihr bloßer Name, in ein Hotelregister eingetragen, unter ein Empfehlungsschreiben gesetzt oder angesichts einer schwierigen Situation erwähnt, rief in den Menschen eine psychologische Wandlung hervor, und diese Veränderung wiederum hatte ihr Standesbewußtsein entwickelt. Diese Tatsachen hatte sie von den Engländern erfahren, die sie seit Hunderten von Jahren kannten. Was sie aber nicht wußte, war, daß Dick zweimal drauf und dran war, ihr diese Heirat vor die Füße zu werfen. Die Situation rettete für diesmal nur, daß Nicole ihren Tisch entdeckte, weiß, frisch und jung und mit dem Septembernachmittag um die Wette strahlend.
Guten Tag, Herr Rechtsanwalt. Wir fahren morgen auf eine Woche nach Como und dann wieder nach Zürich zurück. Darum möchte ich, daß Sie und meine Schwester die Sache regeln, weil es uns einerlei ist, wieviel für mich ausgesetzt wird. Wir werden zwei Jahre lang sehr still in Zürich leben, und Dick hat genug, um uns zu ernähren. Ja, ja, Baby, ich bin praktischer, als du denkst – ich werde es nur für Garderobe und so benötigen ... Oh, das ist mehr, als – kann der Grundbesitz wirklich so viel für mich abwerfen? Ich weiß, ich werde nie imstande sein, so viel auszugeben. Hast du auch so viel? Warum hast du mehr – wohl weil man mich für untüchtig hält? Schön, dann mag mein Anteil sich anhäufen ... Nein, Dick weigert sich, auch nur das Geringste damit zu tun zu haben. Ich werde für uns beide großtun müssen. Baby, du hast ja überhaupt keine Ahnung, wie Dick wirklich ist – Wo muß ich unterzeichnen? Oh, es tut mir leid.
... Ist es nicht spaßig und einsam, beieinander zu sein, Dick? Keine andere Zuflucht als neben dir. Sollten wir uns nur lieben und lieben? Ach, aber ich liebe am stärksten; ich weiß genau, wenn du dich von mir entfernst, wenn es auch nur ein wenig ist. Ich finde es herrlich, so zu sein wie jeder andere auch. Den Arm auszustrecken und dich ganz warm neben mir im Bett zu finden.
... Bitte, wollen Sie meinen Mann im Krankenhaus anrufen. Ja, das kleine Buch geht sehr gut – es soll in sechs Sprachen herauskommen. Eigentlich sollte ich die französische Übersetzung besorgen, aber ich bin zur Zeit so müde – ich habe Angst umzufallen, ich bin so dick und schwerfällig – wie ein mißratener Pudding, der nicht aufrecht stehen kann. Das kalte Hörrohr an meiner Brust und mein einziger Gedanke ›Je m'en fiche de tout‹. – Ach, im Krankenhaus die arme Frau mit dem leichenblassen Baby, viel lieber tot. Ist es nicht schön, daß wir jetzt zu dritt sind?
... Das scheint mir unvernünftig, Dick – wir haben allen Grund, die größere Wohnung zu nehmen. Warum sollen wir uns kasteien, nur weil mehr Warrensches als Diversches Geld vorhanden ist. Oh, vielen Dank, cameriere, aber wir haben uns anders entschlossen. Der englische Geistliche hat uns gesagt, Ihr Wein hier in Orvieto sei ausgezeichnet. Er läßt sich nicht verschicken? Wahrscheinlich haben wir deshalb niemals etwas von ihm gehört, denn wir sind Weinliebhaber.
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