»Ihre Schwester war unruhig.«
»Oh!« Sie war daran gewöhnt, beaufsichtigt zu werden. Sie bemühte sich, eine Erklärung zu geben: »Manchmal macht es mich etwas – es wird mir etwas zuviel. Ich habe so still gelebt. Diese Musik heute war zuviel. Ich hätte am liebsten geweint –«
»Das verstehe ich.«
»Es war überhaupt ein furchtbar aufregender Tag.«
»Ich weiß.«
»Ich möchte kein Spielverderber sein – ich habe den Menschen genug Mühe verursacht. Aber heute abend hatte ich das Bedürfnis wegzugehen.«
Plötzlich fiel es Dick ein – so wie es vielleicht einem sterbenden Mann einfällt, daß er vergessen hat zu sagen, wo sich sein Testament befindet –, daß Nicole von Dohmler und den gespenstigen Generationen vor ihm zu einem neuen Menschen gemacht worden war; es fiel ihm auch ein, daß es sehr vieles gab, was ihr gesagt werden mußte. Aber nachdem er diese Weisheit innerlich zu Protokoll genommen hatte, strich er die Segel vor der Macht des Augenblicks und sagte:
»Sie sind ein reizendes Geschöpf – bleiben Sie Ihrem eigenen Urteil über sich selbst treu.«
»Gefalle ich Ihnen?«
»Freilich.«
»Würden Sie –«
Sie schlenderten dahin, dem dunklen Teil des Hufeisens zu, der zweihundert Meter über ihnen lag. »Wenn ich nicht krank gewesen wäre, würden Sie – ich meine, wäre ich ein Mädchen von der Art gewesen, wie Sie es hätten – ach was, Sie wissen, was ich meine.«
Nun packte es ihn doch, und eine ungeheure Unvernunft beseelte ihn. Nicole war ihm so nah, daß er fühlte, wie sein Atem schneller ging; wieder jedoch kam ihm seine Schulung zu Hilfe und äußerte sich in einem jungenhaften Lachen und einer abgedroschenen Bemerkung.
»Sie machen sich unnütze Gedanken, meine Liebe. Ich habe einen Mann gekannt, der verliebte sich in seine Krankenschwester –« Die Geschichte plätscherte dahin, begleitet von dem Geräusch ihrer Schritte. Plötzlich unterbrach ihn Nicole in kurzem, knappem Chicago-Jargon: »Scheibenkleister!«
»Das ist ein sehr ordinärer Ausdruck.«
»Na, und?« brauste sie auf. »Sie meinen, ich hätte keinen Verstand – bevor ich krank wurde, hatte ich keinen, aber jetzt ist es anders. Und wenn ich nicht merken würde, daß Sie der bezauberndste Mann sind, der mir je begegnet ist, müßten Sie mich immer noch für verrückt halten. Es ist mein Pech, schön – aber tun Sie nicht so, als wüßte ich nichts – ich weiß über Sie und mich genau Bescheid.«
Dick war doppelt im Nachteil. Er erinnerte sich an die Bemerkung des älteren Fräulein Warren über die jungen Ärzte, die man in den Viehhöfen der Intelligenz in Süd-Chicago käuflich erwerben konnte, und wappnete sich augenblicklich mit Widerstand.
»Sie sind ein entzückendes junges Ding, aber ich könnte mich nicht verlieben.«
»Sie wollen mir nur keine Chance geben.«
»Waaas?«
Die Unverfrorenheit, das Geltendmachen von Besitzrechten, das darin enthalten war, verblüfften ihn. Da ihm Anarchie fremd war, konnte er sich keine Chance vorstellen, auf die Nicole Warren Anspruch hätte erheben können.
»Geben Sie mir jetzt eine Chance.«
Die Stimme wurde leise, tauchte in ihre Brust zurück und breitete einen festen Schild um ihr Herz, als sie ihm nahe kam. Er spürte die jungen Lippen; erlöst seufzend lehnte sie sich in den Arm, der an Kraft zunahm, während er sie hielt. Jetzt gab es für Dick ebenso wenig Pläne mehr, als wenn er eigenmächtig eine unlösliche Mixtur aus zusammengehörigen und untrennbaren Atomen hergestellt hätte. Man konnte sie ganz und gar ausschütten, doch niemals konnten sie wieder in eine Atomskala zurückgegliedert werden. Als er das Mädchen hielt und spürte, und als sie mit Lippen, die ihr selbst fremd schienen, sich ihm mehr und mehr näherte – erstickt und verzehrt von Liebe und dennoch erquickt und jubelnd –, war er dankbar für seine bloße Existenz, wenn er sie auch nur in ihren nassen Augen widergespiegelt sah.
»Mein Gott!« stöhnte er. »Es macht Spaß, Sie zu küssen.«
Das waren Worte, aber Nicole hatte jetzt mehr Macht über ihn und nützte sie aus; sie entwand sich ihm kokett, ging von ihm fort und ließ ihn in Ungewißheit zurück, wie am Nachmittag in der Drahtseilbahn. Sie dachte: Dies wird ihm zeigen, was für ein guter Einfall das war, und was er alles mit mir anfangen könnte; oh, es ist herrlich! Ich habe ihn, er gehört mir. Nun, hinterher, wich sie zurück, aber alles war so süß und neu, daß sie zögerte, weil sie alles auskosten wollte.
Unvermittelt fröstelte sie. Zweitausend Fuß tiefer unten sah sie wie ein Halsgeschmeide und Armband von Lichtern Montreux und Vevey liegen und weiter entfernt, als blasses Schmuckgehänge, Lausanne. Irgendwo von unten erklang leise Tanzmusik. Nicoles Verstand arbeitete jetzt ganz klar und kühl; sie versuchte, die Gefühle ihrer Kindheit unter die Lupe zu nehmen, genau so bewußt, wie sich ein Mann nach der Schlacht betrinkt. Aber sie hatte immer noch Angst vor Dick, der bei ihr stand und sich in charakteristischer Weise an den Eisenzaun lehnte, der das Hufeisen umgab; und das veranlaßte sie, zu sagen: »Ich erinnere mich noch, wie ich im Garten auf dich wartete und mein ganzes Herz auf den Händen trug wie einen Korb mit Blumen. So jedenfalls erschien es mir – ich fand mich liebreizend – wie ich so wartete, um dir den Korb zu überreichen.«
Er atmete über ihrer Schulter und drehte sie nachdrücklich zu sich herum; sie küßte ihn mehrere Male; jedesmal wurde ihr Gesicht groß, wenn es ihm nahe kam, ihre Hände lagen auf seinen Schultern.
»Es regnet stark.«
Plötzlich dröhnte es von den Weinbergen jenseits des Sees; man schoß mit Kanonen nach Hagelwolken, um sie zu zerstreuen. Die Lichter des Promenadenweges gingen aus und wieder an. Dann brach das Unwetter los; erst stürzte es vom Himmel herab, dann ergoß es sich mit doppelter Gewalt in Strömen von den Bergen und flutete brodelnd durch Straßen und Steingräben; es brachte einen erschreckend schwarzen Himmel mit sich, wildgezackte Blitze und ohrenbetäubende Donnerschläge, während unheilbringende Wolken in Fetzen am Hotel entlang jagten. Berge und See verschwanden – das Hotel duckte sich inmitten von Tumult, Chaos und Finsternis.
Mittlerweile hatten Dick und Nicole das Vestibül erreicht, wo Baby Warren und die drei Marmoras sie besorgt erwarteten. Es war wundervoll, aus dem nassen Sprühregen zu kommen, die Türen hinter sich zuzuschlagen und lachend und vor Erregung zitternd dazustehen, Sturm in den Ohren und Regen auf den Kleidern. Im Tanzsaal spielte das Orchester gerade einen Straußwalzer, fröhlich und mitreißend.
... Sollte ausgerechnet Doktor Diver eine Geisteskranke heiraten? Wie konnte das geschehen? Wann hatte es begonnen?
»Wollen Sie nicht wieder herkommen, wenn Sie sich umgezogen haben?« fragte Baby Warren nach eingehender Musterung.
»Außer ein paar Hosen habe ich nichts zum Wechseln mit.«
Als er sich in einem geliehenen Regenmantel zu seinem Hotel hinaufkämpfte, mußte er andauernd höhnisch vor sich hinlachen.
»Das große Los – jawohl! Grundgütiger! Sie haben beschlossen, einen Arzt zu kaufen. Nun, es ist besser, sie halten sich an jemand, den sie in Chicago haben.« Da seine Härte ihm gegen den Strich ging, ließ er Nicole Gerechtigkeit widerfahren, indem er sich vergegenwärtigte, daß nichts sich jemals so taufrisch angefühlt hatte wie ihre Lippen, daß die Regentropfen auf ihren mattglänzenden Porzellanwangen Tränen glichen, die sie um ihn vergoß ... Die Stille, die dem Sturm folgte, weckte ihn gegen drei Uhr, und er ging ans Fenster. Nicoles Schönheit kam über den welligen Abhang zu ihm herauf, drang in sein Zimmer, raschelte gespenstig in den Vorhängen ...
... Am nächsten Morgen stieg er zweitausend Meter hoch auf den Rocher de Naye und amüsierte sich darüber, daß sein Bergführer vom vorhergehenden Tag seinen dienstfreien Tag dazu benutzte, um ebenfalls eine Kletterpartie zu machen.
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