Dick verbeugte sich vor einer großen, selbstsicheren Dame von fünfundzwanzig Jahren. Sie flößte Respekt ein und bot gleichzeitig Angriffspunkte; so jedenfalls wirkte sie auf ihn, und er mußte an andere Frauen mit blütengleichen Mündern denken, die zum Anbeißen waren.
»Ich werde nach dem Dinner vorbeikommen«, versprach Dick. »Erst muß ich mich akklimatisieren.«
Er entfernte sich, sein Rad vor sich her schiebend, und fühlte, daß Nicole ihm mit den Blicken folgte, spürte ihre hilflose erste Liebe und merkte, wie diese sich seinem Innern verband. Er stieg den dreihundert Meter hohen Abhang zu dem anderen Hotel hinauf, nahm ein Zimmer und wusch sich, ohne sich an die dazwischenliegenden zehn Minuten zu erinnern, lediglich in einem trunkenen Gefühl froher Erregung, in der er Stimmen vernahm, unwichtige Stimmen, die nichts davon wußten, wie sehr er geliebt wurde.
Sie warteten auf ihn, und es war, als fehlte ihnen etwas; immer noch war er das ausschlaggebende Element; Fräulein Warren und der junge Italiener trugen ihre frohe Erwartung ebenso zur Schau wie Nicole. Der Salon des Hotels, ein Raum mit märchenhafter Akustik, war zum Tanzen ausgeräumt, doch befand sich darin eine kleine Galerie mit Engländerinnen einer gewissen Altersstufe, mit Halsbändern, gefärbten Haaren und rosagrau gepuderten Gesichtern, und mit Amerikanerinnen einer gewissen Altersstufe, mit schneeweißen Perücken, schwarzen Kleidern und kirschroten Lippen. Fräulein Warren und Marmora saßen an einem Ecktisch – Nicole vierzig Meter weit von ihnen entfernt am andern Ende des Raumes, und als Dick hereinkam, hörte er ihre Stimme:
»Können Sie mich hören? Ich spreche ganz natürlich.«
»Tadellos.«
»Hallo, Doktor Diver.«
»Was bedeutet das?«
»Denken Sie sich, die Leute in der Mitte der Tanzfläche können nicht hören, was ich sage, aber Sie können es.«
»Ein Kellner hat uns darauf aufmerksam gemacht«, sagte Fräulein Warren. »Man kann von einer Ecke zur anderen hören – es ist wie Rundfunk.«
Es war aufregend oben auf dem Berg, wie in einem Schiff auf See. Alsbald gesellten sich Marmoras Eltern zu ihnen. Sie behandelten die beiden Warrens mit Hochachtung – Dick schloß daraus, daß ihr Vermögen etwas mit einer Bank in Mailand zu tun hatte, die ihrerseits etwas mit dem Vermögen der Warrens zu tun hatte. Aber Baby Warren wollte mit Dick sprechen, wollte mit ihm sprechen aus dem Drang heraus, der sie allen neuen Männern unstet entgegentrieb, als befände sie sich auf einem straff gespannten Seil und zöge in Betracht, daß sie eigentlich so schnell wie möglich an sein Ende gelangen sollte.
»– Nicole hat mir erzählt, daß Sie sie mit betreut und eine Menge zu ihrer Genesung beigetragen haben. Was ich nicht begreife ist, was wir nun tun sollen – im Sanatorium haben sie sich so unklar ausgedrückt, sie haben mir nur gesagt, sie sollte natürlich und vergnügt sein. Ich wußte, daß die Familie Marmora hier ist, darum bat ich Tino, sich an der Drahtseilbahn mit uns zu treffen. Und man sieht, was dabei herauskommt – das erste ist, daß sie ihn am Wagen entlang von einem Abteil zum andern kriechen läßt, als wenn sie beide übergeschnappt wären –«
»Das war durchaus normal.« Dick lachte. »Ich halte es für ein gutes Zeichen. Sie haben sich voreinander großtun wollen.«
»Aber wie soll ich das wissen? Ehe ich es mich versah, fast vor meinen Augen, ließ sie sich in Zürich die Haare abschneiden, nach einem Bild in ›Vanity Fair‹.«
»Das ist ganz in Ordnung. Sie ist eine Schizoide – wird immer eine Exzentrikerin sein. Daran ist nichts zu ändern.«
»Was ist das?«
»Was ich Ihnen sagte – eine Exzentrikerin.«
»Ja, aber wie soll man wissen, was exzentrisch und was übergeschnappt ist?«
»Von Übergeschnapptheit ist keine Rede – Nicole ist neugeboren und glücklich. Sie brauchen keine Angst zu haben.«
Baby bewegte ihre Knie hin und her – sie war die Verkörperung all der unbefriedigten Frauen, die vor hundert Jahren Byron geliebt hatten. Trotz des tragischen Erlebnisses mit dem Gardeoffizier war etwas Onanistisches um sie.
»Es ist mir nicht wegen der Verantwortung«, erklärte sie, »aber ich schwebe in der Luft. Wir haben noch nie etwas Derartiges in der Familie gehabt – wir wissen, daß Nicole irgendeinen Schock gehabt hat, und meiner Meinung nach war ein junger Mann im Spiel, aber wir wissen es nicht genau. Vater sagt, er hätte ihn niedergeknallt, wenn er dahintergekommen wäre.«
Das Orchester spielte »Arme Butterfly«; der junge Marmora tanzte mit seiner Mutter. Es war eine Melodie, die ihnen allen ziemlich neu war. Dick lauschte und betrachtete die Schulter von Nicole, indes das junge Mädchen mit dem älteren Marmora plauderte, dessen Haare weiß gesprenkelt waren wie die Tastatur eines Klaviers; er mußte an die sanfte Rundung einer Geige denken, und dann dachte er an die Schmach, an das Geheimnis. O Butterfly, die Minuten werden zu Stunden –
»Wissen Sie, ich habe einen Plan«, fuhr Baby mit einer gewissen Strenge fort. »Vielleicht wird er Ihnen völlig unausführbar erscheinen; aber es heißt, daß Nicole noch ein paar Jahre unter Aufsicht sein muß. Ich weiß nicht, ob Sie Chicago kennen –«
»Nein.«
»Also, es gibt den nördlichen und den südlichen Stadtteil, und beide sind sehr verschieden voneinander. Der Norden ist schick und so, und wir haben immer dort gelebt, zum mindesten viele Jahre lang; aber eine Menge alter Familien, alter Chicagoer Familien, wenn Sie wissen, was ich damit meine, lebt immer noch im südlichen Stadtteil. Dort befindet sich die Universität. Ich glaube, manche Menschen finden es langweilig, auf jeden Fall aber ist es dort anders als im Norden. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen?«
Er nickte. Mit einiger Willensanstrengung war er imstande gewesen, ihr zu folgen.
»Nun haben wir natürlich eine Menge Beziehungen dorthin – Vater hat Einfluß auf die Besetzung von Lehrstühlen und die Dotierung der Professoren an der Universität, und ich hatte gedacht, wenn wir nun Nicole nach Hause mitnehmen und mit den Leuten zusammenbringen würden – sehen Sie, sie ist ziemlich musikalisch und spricht so viele Sprachen – was könnte ihr, in ihrer Lage, Besseres passieren, als daß sie sich in irgendeinen guten Arzt verliebt –«
Eine plötzliche Heiterkeit durchströmte Dick: Warrens hatten die Absicht, Nicole einen Arzt zu kaufen. »Haben Sie einen netten Arzt, den Sie uns ablassen können?« Es hatte keinen Zweck, sich über Nicole Gedanken zu machen, solange ihre Familie in der Lage und imstande war, ihr einen netten, jungen frischgebackenen Arzt zu kaufen.
»Aber wo kriegen Sie den Arzt her?« fragte er automatisch.
»Es muß doch eine Menge geben, die auf eine solche Chance fliegen.«
Die Tänzer waren zurückgekommen, aber Baby flüsterte hastig:
»Das ist der Plan, den ich im Sinn habe. Aber wo ist Nicole? Sie ist irgendwohin gegangen. Ist sie oben in ihrem Zimmer? Was muß ich jetzt tun? Ich weiß nie, ob es sich um etwas Harmloses handelt oder ob ich auf die Suche nach ihr gehen soll.«
»Vielleicht will sie nur allein sein – Menschen, die viel allein waren, gewöhnen sich an die Einsamkeit.« Er hielt inne, als er merkte, daß Fräulein Warren nicht zuhörte. »Ich werde mich nach ihr umsehen.«
Im Augenblick war die Welt draußen von Nebel verhüllt, wie ein Frühling hinter zugezogenen Vorhängen. Alles Leben konzentrierte sich in der Nähe des Hotels. Dick ging an Kellerfenstern vorbei, hinter denen Hotelpagen auf Bettkästen saßen und bei einem Liter spanischem Wein Karten spielten. Als er sich dem Promenadenweg näherte, fingen die Sterne an, über den weißen Gipfeln der hohen Alpen zu erscheinen. Auf dem hufeisenförmigen Pfad, von dem aus man den See überblicken konnte, stand eine Gestalt bewegungslos zwischen zwei Kandelabern; es war Nicole, und er ging schweigend quer über den Rasen auf sie zu. Sie wandte den Kopf mit einem Ausdruck, als wollte sie sagen: »Da sind Sie ja«, und eine Sekunde tat es ihm leid, daß er gekommen war.
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