Ihr Gesicht ist ganz dicht vor mir, ich spüre ihren warmen Atem und sehe aufsteigende Panik in ihren Augen.
„Um Himmels willen, was ist denn los? Hatten Sie wieder einen Albtraum?“ fragt sie aufgeregt.
Völlig verwirrt schließe ich kurz die Augen und atme tief aus und ein.
„Ja, aber Dr. Morales meinte, es hat etwas mit der verdammten Pflanze zu tun. Sie enthielt nicht nur ein Nervengift sondern auch Halluzinogene, die ihre Wirkung zum Teil vielleicht erst jetzt entfalten.“
Mit der linken Hand greife ich mir ins Gesicht, lege meinen Daumen an die Wangen und die Spitzen der restlichen Finger an die Schläfe. Sanft drücke ich dagegen, um vielleicht die Gespenster der Maya-Vergangenheit zu vertreiben.
„Tut mir leid Saundra, aber dieser Albtraum…! Ich muss erst selbst damit klarkommen!“ bitte ich sie um Verzeihung!
„Schon gut! Möchten Sie jetzt vielleicht etwas essen? Oder noch etwas trinken?“ raunt sie sanft, entfernt ihr Gesicht etwas von meinem und schaut mich besorgt an.
„Ja, dieser scheußliche Tee wäre nicht schlecht und vielleicht Miguels ‚Madre Tierra’!“ erwidere ich matt und kraftlos.
Saundra lächelt mich erleichtert an.
„Sofort, Sir! Sie bekommen, wonach Ihr Herz sich sehnt! Bitte nicht wieder einschlafen und grässlich träumen, ich bin sofort wieder da!“ lächelt sie und eilt aus dem Zelt, während ich zunächst allein zurückbleibe.
Ich versuche mich mühsam auf die Seite meines Bettes zu schieben, um an meinen Laptop heranzukommen der darunter sein muss und nach einigem Kramen gelingt es mir ihn hervorzuholen, aufzuklappen und hoch zu fahren.
Wie ich mir schon gedacht habe sind einige Mails von meiner Mum dabei, die jetzt schon zwei ganze Tage nichts von mir gehört hat und sich sicher die schrecklichsten Szenarien ausmalt!
Somit öffne ich zunächst die erste Mail die sie doch noch vorgestern geschickt hat, allerdings erst am Nachmittag, wo es mir schon sehr schlecht ging.
Absenderadresse: Laura Bolder
Datum: 15. Oktober 2014 EDT 2.28 p.m.
Empfänger: Matt Bolder
Betreff: Urwald
Mein lieber Sohn Matt,
nein ich habe nicht gewusst, dass bisher so wenig von Palenque freigelegt ist. Vielleicht bist du ja länger dort, dann kannst du dich austoben, wenn es dir so viel Spaß macht. Sei aber bitte vorsichtig im Urwald, dort gibt es sicher viele wilde Tiere die gefährlich werden könnten.
Deine Schwester hat sich übrigens gut eingelebt in Boston und geht begeistert ihrem Job als Software-Entwicklerin nach.
Viele Grüße auch von Dad!
Deine dich liebende Mum!
Ich schließe die Mail wieder um die nächste zu öffnen.
Absenderadresse: Laura Bolder
Datum: 16. Oktober 2014 EDT 7.05 a.m.
Empfänger: Matt Bolder
Betreff: Nicht gemeldet!
Mein lieber Matt,
leider hast du dich gestern gar nicht bei mir gemeldet, aber du wirst sicher deine Gründe gehabt haben. Schade!
Ich hoffe, es ist alles in Ordnung mit dir?
Bei uns ist alles beim Alten, tagaus tagein immer das Gleiche.
Bis bald
Deine besorgte Mum!
Die nächste Mail ist von heute Morgen.
Absenderadresse: Laura Bolder
Datum: 17. Oktober 2014 EDT 6.47 a.m.
Empfänger: Matt Bolder
Betreff: Nicht gemeldet! Ich mache mir Sorgen
Mein lieber Sohn Matt,
du hast dich gestern wieder nicht gemeldet! Langsam mache ich mir Sorgen um dich. Bitte melde dich doch!
Deine, sich ängstigende Mum, Laura!
In dem Moment erscheint Saundra wieder im Zelt mit einem Tablett, auf dem Miguels scheußlicher Tee und seine Madre Tierra stehen, welches noch dampft und einen verführerischen aromatischen Duft verbreitet.
„Sie können es wohl auch nicht lassen, was? Kaum können Sie Augen aufmachen, hängen Sie schon wieder am Computer!“ sie schüttelt tadelnd mit dem Kopf.
„Nun ja, was soll ich sagen? Aber meine Mum hat die Angewohnheit mir täglich eine Mail zu schreiben, die ich möglichst immer kurz beantworte damit sie weiß, dass es mir gut geht.
Inzwischen macht sie sich natürlich Sorgen und ich sollte ihr zurück schreiben, aber im Liegen schaffe ich das glaube ich nicht!“ antworte ich leise und sehe ihr fragend ins Gesicht.
„Würden Sie vielleicht? Wenn ich es Ihnen diktiere?“
Sie stellt das Tablett auf den Boden und setzt sich zu mir auf das Bett.
„Natürlich kein Problem, das mache ich doch gerne!“
Ich halte ihr den Laptop hin und sie stellt ihn sich auf den Schoß.
„Schießen Sie los!“
Absenderadresse: Matt Bolder
Datum: 17. Oktober 2014 UTC 2.39 p.m.
Empfänger: Laura Bolder
Betreff: Nicht gemeldet!
Meine liebste Mum,
es tut mir sehr leid, aber ich konnte mich in den letzten zwei Tagen nicht melden!
Bitte mach’ dir keine Sorgen, es geht mir inzwischen wieder gut!
Weißt du im Urwald gibt es nicht nur gefährliche Tiere, die mir aber nichts getan hätten, denn der Indio den ich dabei hatte, hat sie alle vertrieben.
Dort gibt es aber leider auch giftige Pflanzen und an einer solchen habe ich mich am Dienstag offenbar verletzt. Die Wirkung hat sich dann einen Tag später entfaltet und mich für zwei Tage ins Reich der Träume geschickt.
Ich bin zwar noch nicht ganz wiederhergestellt und noch etwas schwach, aber ich bin auf dem Weg der Besserung.
Gerate daher bitte nicht in Panik, in ein paar Tagen wird alles vergessen sein.
Mr. Dunaway hatte mich zwar gewarnt, aber ich habe offenbar nicht gut genug aufgepasst.
Scheiße Mum, ich hätte nicht gedacht, dass mich eine einfache, unscheinbare Pflanze an den Rand meines Lebens bringen könnte.
In Liebe dein Sohn Matt!
„Abschicken?“ sieht Saundra mich fragend an.
„Abschicken!“ antworte ich schwach.
„Möchten Sie ihre anderen Mails auch ansehen?“ fragt sie.
„Nein jetzt nicht. Das wird mir zu viel, das reicht morgen auch noch, vielleicht geht es mir dann ja schon wieder besser.“
„So jetzt sollten Sie aber endlich etwas essen.“ stellt sie lächelnd fest.
Sie steckt den Laptop an das Stromnetz an, hilft mir mich aufzurichten und stopft mir das Kopfkissen in den Rücken, wobei mir wieder etwas schwindelig wird.
Hoffentlich hört das bald auf.
Saundra stellt mir das Tablett auf die Beine, gießt danach Tee ein und ich versuche mit dem Löffel etwas aus der Auflaufschale zu bekommen. Es gelingt mir jedoch nicht, meine Feinmotorik funktioniert offenbar noch nicht richtig.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen.“
Um ihre Mundwinkel spielt ein verschmitztes Grinsen, sie nimmt mir den Löffel aus der Hand und beginnt mich zu füttern wie ein kleines Kind.
„Nicht doch Saundra, ich kann das alleine, bitte!“ angewidert drehe ich den Kopf zu Seite.
„Keine Widerrede! Ich sehe doch, dass Sie noch zu schwach dazu sind, also machen Sie schon den Mund auf.“ sagt sie und ihr strenger Blick lässt mich unweigerlich gehorchen.
„Das ist aber nett von Ihrer Mutter, dass sie sich so um Sie sorgt?“ beginnt sie zu fragen.
„Ja schon! Manchmal geht es mir ein wenig auf die Nerven, aber daran merke ich auch immer wieder, wie sehr sie meine Schwester und mich liebt.“ entgegne ich ihr zwischen zwei Bissen.
„Sie haben noch eine Schwester?“ fragt sie neugierig weiter.
„Ja, Kylie, sie ist sechsundzwanzig und erst vor Kurzem nach Boston gezogen, wo sie einen Job als Software-Entwicklerin angenommen hat, aber offenbar hat sie sich schon ganz gut eingelebt.
Sorgt Ihre Mutter sich denn nicht um Sie?“ stelle ich eine Gegenfrage.
Saundra senkt die Augen und überlegt kurz.
„Nein, ich glaube nicht! Sie hat uns verlassen als ich fünf war. Ich kann mich kaum an sie erinnern und mein Vater will nicht über sie sprechen.“ antwortet sie und klingt traurig dabei.
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