Eine Bremsaktion, die mit dem Holzroller nicht zu machen war.
Später übertrug ich diese Erfahrung aus der Hacke auf die rechte Hand, mit der ich die Handbremse in meinem damalig schon mittelalterlichen VW Käfer zog! Im Winter besonders bemerkenswert, wenn Schnee auf den Straßen lag, oder sie vereist waren. Der Wagen wedelte mit dem Heck herum. Manchmal gelang es auch, den Wagen vollständig zu drehen. Natürlich nicht auf der Straße. Aber auf einem großen Asphaltplatz zum Üben war dies prima und machte Spass. Es konnte ja nichts passieren. Es war schon wichtig zu wissen, wie so ein Auto im Falle eines Falles reagiert.
Damals, nachdem ich den Roller mit den roten Schutzblechen bekommen hatte, gab ich den Holzroller an meine jüngere Schwester weiter. Da war ich ganz großzügig.
In meiner Kindheit machte es einen Heidenspaß auf diesem neuen Roller immer neue Figuren zu entwickeln. Mal ein Bein in die Höhe strecken, dann das Kinn auf den silbernen Lenker legen und so tun, als sei ich eine Rennfahrerin, die sehr schnell über eine Piste donnert. Mich hinten über dem Hinterrad auf den Gepäckträger zu setzen, funktionierte nicht so gut: Meine Arme waren noch zu kurz. Schließlich war ich erst knapp 2 1/2 Jahren alt, konnte kaum über den Lenker schauen und brachte diesen großen, schweren Roller auf Touren. Aber mich auf den Gepäckträger stellen, das konnte ich. Auch konnte ich trotzdem lenken. Auch hier gelang es mir, ein Bein in die Höhe zu strecken. Eine Ballerina auf dem Roller im Sommer mit rosa Tütü. Im Winter eine Eisprinzessin mit warmer Mütze und Schal um den Hals, der im Wind wehte. Also auf dem Roller wurde bei Wind und Wetter Akrobatik geübt.
Ich hatte aber etwas anderes Wesentliches auch dabei gelernt, was eigentlich Voraussetzung war, mit dem Roller schnell über den Platz und die Bürgersteige zu fahren: Balance. Balance konnte ich gut halten - auch später im Turnunterricht oder auf hohen Mauern oder Holzabgrenzungen, wie es immer noch eine gibt im Romberg Park rund um den See. Das war mein Revier. Ebenso wie Plätze, auf denen stundenlang Rollschuh- oder Schlittschuh gefahren werden konnte und in den Bergen, Ski.
Im Sommer ging ich oft zur Entspannung eine Runde balancieren. Dann war die Welt nach vielem Lernen für das Studium wieder im Lot. Die Augen entspannt. Mein Körper verlor die Anspannung vom Lesen am Schreibtisch oder tippen in die Schreibmaschine. Auf dem Holz entspannte ich mich und balancierte alles fort.
Und ich lernte noch etwas: Zu akzeptieren, dass der Roller müde war abends und schlafen musste, wie meine Oma immer sagte. Natürlich wurde diese Erklärung nicht einfach hingenommen von mir. Sie wurde bequengelt und diskutiert.
Also, es gab auch Grenzen, die beachtet werden mussten, auch wenn es nicht meine waren. Denn ich hätte ja noch ganz lange jeden Tag Roller fahren können!
Insofern, stand ich von kleinauf und schon früh am Tag bereit, etwas zu tun: Rollerfahren. Später war es die Schule. Dann das Studium. Dann die Kliniken. Dann die Praxis. Tätigkeit, die mir Spass macht, war absolut wichtig. Und ist es jetzt noch.
Das ist mein Leben. Und zwar, mit anderen netten Menschen zusammen.
Also, die wichtigsten Dinge für mein Leben habe ich bereits damals, als ich noch klein war, gelernt: Balance halten und mich mit Grenzen anfreunden. Dafür sorgen, dass der Roller morgens wieder fit war, wie Oma mir verstand, klar zu machen.
Denn ich war ja nicht müde ...
Aktuell - was erwartet sie?
Der alte Strumpf LIFE-WORK-BALANCE wird mal abgewertet und verpönt als überflüssig in der Altkleidersammlung abgelegt, um ein paar Jahre später als Neuentdeckung und überaus interessant und unentbehrlich als Begriff, Dinge denkbar, überschaubar und handhabbar zu machen, deklariert. Wer hätte das gedacht ... Das Rätsel löst sich ganz einfach dadurch, dass LIFE-WORK-BALANCE ein Verhältnis mit Ewigkeitscharakter beschreibt. Es ist nicht per Definition in irgendetwas anderes umzukehren oder aufzulösen. Die einzelnen Säulen LIFE, WORK und BALANCE sind jeweils mit anderen Inhalten zu füllen und erscheinen aus dieser Perspektive betrachtet fast wie eine mathematische Gleichung.
Momentan strömen Flüchtlinge zu Tausenden täglich mit Themen, die sich aus dem Verlust von Heimat*, Haus und Hof und Verlusten auf ihrer Flucht ergeben, zu uns. In den Medien wird der Begriff ,Heimat‘ als Werbeträger zu etwas Nichtstofflichen gemacht:
„Heimat ist ein Gefühl!“
Dazu möchte ich ergänzen: Und kein Ort und in keinem Land anzutreffen? Das passt gut zu der millionenfachen Vertreibung von Menschen aus unterschiedlichen Gründen aus ihrer Heimat, aus ihrem Land, ja Kontinent: Das Gefühl, das sie in sich tragen ist eher, Heimat verloren zu haben und in der Fremde, irgendwo in der Welt wieder einen Ort zu finden, an dem sie sich sicher fühlen können. Ob das gelingt, wird sich zeigen. Migranten aus der Türkei, Griechenland, Italien oder Spanien teilen bisweilen Gefühle mit, an beiden Orten nicht mehr verwurzelt zu sein: Nicht in ihrer ursprünglichen Heimat, die sie verließen um Geld zu verdienen bei uns, und auch nicht in Deutschland, in dem sie seit Jahrzehnten wohnen. Manche haben bis heute nicht die deutsche Sprache gelernt. Sie sind irgendwo dazwischen hängen geblieben. Unentschieden und ohne Wurzeln, wissen sie nicht, wohin sie gehören.
Deutschland begrüsst die jetzigen Flüchtlinge und ist sehr bemüht, sie unterzubringen und zu unterstützen. Spannung und Konflikte schwelen zwischen Begrüßungskultur und denen, die Flüchtlinge aus Sorge, zu kurz zu kommen, ablehnen. Hier wackelt die Balance intern in Deutschland. Man ist unterschiedlicher Meinung. Brennende Fackeln die in Unterkünfte für Flüchtlinge fliegen, pumpen sich zum Symbol für Uneinigkeit auf. Über die Menschen, die Flüchtlinge nicht unterstützen und sofort wieder heraus, oder gar nicht erst hineinlassen wollen und aus dem Land jagen möchten, schreiben andere schon genug. Ich möchte Aufzählungen entwürdigender Schmähtaten unterlassen. Stimmungen haben wir schon genug!
Fehlende Balance zwischen den verschiedenen Standpunkten formte Konflikte in den letzten Monate nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern innerhalb Europas. Neuerdings äußert sich auch die große, weite Welt, wie toll und autonom Deutschland mit den Flüchtlingen umginge!
Willkommen Kultur ist in aller Munde - plötzlich ein neuer Begriff, der um die Welt segelt. In Dortmund luden am 12. September 2015, frisch angekommene und aufgenommene Flüchtlinge zu kostenlosen Mahlzeiten aus ihrem Land am Katharinentor ein um Danke zu sagen.
Dieser Dank ist mehr als eine Geste! Er ist ein Zeichen, sich zugehörig zu fühlen und ein Zeichen, sich schon ein bisschen akzeptiert zu fühlen und dies auch wahrzunehmen in dieser Stadt und diesem Land.
Zeitlich nach dem obigen Wochenende änderten sich Regeln des Umgangs mit Flüchtlingen bundesweit noch einmal gründlich: Grenzkontrollen und Abwehr traten an die Stelle von Öffnung und Aufnahme.
Ob Stadt und Land Heimat wird, wird man abwarten müssen: Denn, selbst Menschen, die ein Vierteljahrhundert in Deutschland sind, müssen Deutschland emotional nicht als Heimat anerkennen - sondern immer noch als das Land, wo man Geld verdienen konnte und kann.
Nebenbei gesagt, geht mir zeitgleich das Rechtschreibprogramm auf meinem MacBook Air auf den Zeiger: Das Rechtschreibprogramm blinkt unentwegt, das Wort ,Heimat‘ zu killen. Natürlich, das versteht man sofort, wenn man bedenkt wie Apple global produziert. Warum sollte man Heimat favorisieren, wo man die ganze Welt in Atem hält. Welche Heimat denn? Was ist das denn? Wir gewöhnen uns doch an Migration und Integration. Die Menschen wechseln die Länder wie die Industrie ihre heimatlichen Standorte verlässt, sich die Billigarbeitnehmer schnappt und auspresst. Und genau dort werden sehr preiswerte neue Standorte errichtet.
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