„Brennt es noch?“ fuhr ich wankend zu ihm herum.
Ich spürte Panik in mir aufsteigen. Wenn es noch brannte, hatte Isabel keine Chance da heraus zu kommen.
„Was? Nein. Das Internat ist doch schon lange gelöscht.“
Ich spürte seinen warmen Atem auf meinem Gesicht, doch sehen tat ich ihn nicht mehr. Alles war verschwommen. Selbst das Adrenalin, das durch mein Körper schoss, veränderte nichts daran.
„Wir müssen… müssen helfen.“
So langsam glich meine Stimme der einer Betrunkenen. Ich war erledigt und meine Beine wollten nicht mehr so wie ich. Er nahm mich wieder auf den Arm – „Was… was machen Sie denn da? Lassen Sie mich runter!“ – und trug mich von der Tür weg. Ich wehrte mich und versuchte wieder auf den Boden zu kommen, aber darüber lachte er nur. Ich muss wirklich ein klägliches Bild abgegeben haben. Er trug mich zielstrebig in einen mir unbekannten Raum und setzte mich dort auf einem Stuhl ab. Ich wollte sofort wieder aufstehen, aber seine Hand auf meiner Schulter machte, dass ich mich wieder setzte. Ich sah mich um und reimte mir aus den Schemen zusammen, dass wir uns in einer Küche befanden.
„So“, meinte er von irgendwo rechts von mir und ich hörte, wie er wieder zu mir kam, „und jetzt iss endlich was.“
Mein Magen machte Flip-Flops und schon der bloße Gedanke an Essen machte, dass mir wieder übel wurde. Ich kreuzte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf, was keine gute Idee gewesen war, weil die wenigen Schemen, die ich sah, zu tanzen anfingen.
„Emily“, ermahnte er mich.
Und gleich darauf hörte ich das Scharren von Stuhlbeinen auf dem Boden, als er sich mir gegenüber niederließ. Über den Geruch von Rauch hinweg vernahm ich den von Milch und irgendwelchen Zerealien. Cornflakes wahrscheinlich. Ich wandte den Kopf ab.
„Du kannst mir nicht erzählen, dass du keinen Hunger hast. Du hast seit über fünf Tagen nichts mehr gegessen.“ Seit über fünf…? Mein Gott, wie lange sind wir schon hier? „Und getrunken hast du auch nichts.“ Ja, das erklärt so einiges… Aber immer noch spukten mir diese Bilder durch den Kopf und mein Hals schnürte sich wieder zu. „Muss ich dich erst dazu zwingen, oder was?“
So langsam hatte seine Stimme wieder den Tonfall von vorhin – Gestern. Vorgestern? – angenommen. Mir war klar, dass es keine gute Idee war, ihn sauer zu machen. Aber das war ja gar nicht meine Absicht. Ich würde nur einfach nichts runter bekommen. Ich machte den Mund auf, um ihm das zu sagen. Aber es kam einfach kein Ton heraus. Stattdessen hörte ich ihn laut ausatmen, dann wieder das Scharren seines Stuhls und dann – unmissverständlich – seine Schritte, als er auf mich zukam.
„Gut, wie du willst“, murmelte er und im nächsten Moment hatte ich seine Hand im Nacken. „Mund auf, “ verlangte er.
Aber ich weigerte mich. Versuchte es zumindest, aber seine Hand hielt meinen Kopf fest. Er ließ mich kurz los, fasste stattdessen nach meinem Kinn, drückte mir die Finger auf die Zähne und machte so, dass ich seinem Befehl Folge leistete. Keinen Augenblick später hatte er mir den ersten Löffel in den Mund geschoben und überstreckte meine Kehle, so dass ich schlucken musste. Ich hatte richtig geraten. Es waren Cornflakes, schon reichlich aufgeweicht. Ich musste noch nicht mal kauen. Der zweite Löffel schmeckte salzig, der dritte ebenso und beim vierten rebellierte dann mein Magen und bevor ich wieder auf seine Schuhe spucken konnte, ließ er mich los und ich sprintete dahin, wo ich die Spüle vermutete. Ich erreichte sie dann auch gerade noch so.
Eigentlich hatte ich erwartet, dass er mich sofort und hier an Ort und Stelle einen Kopf kürzer machen würde. Oder aber mir zumindest gewaltig die Leviten lesen würde. Aber er tat gar nichts. Er schrie mich noch nicht mal an. Er stand einfach nur da und schäumte vor Wut. Ich machte, dass ich aus der Küche kam. Dank des Adrenalins, das jetzt wieder heftiger durch meine Adern schoss, sah ich sogar schon wieder ein Bisschen was. Alles war nur noch leicht verschwommen und es schwankte nicht mehr ganz so arg. Ich rannte, wohin mich meine Füße trugen und landete so bei einer offenen Terrassentür, die auf eine hölzerne Sitzfläche und anschließend in einen Tannenwald führte. Ich rannte und rannte und bekam am Anfang gar nicht mit, dass es regnete.
Die Tannenbäume wurden bald abgelöst von Laubbäumen, die aber auch nicht wirklich mehr Schutz vor dem Regen boten. Ich verringerte mein Tempo und sah mich um. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Eigentlich hatte ich angenommen, dass er hinter mir herkommen würde, aber ich hörte ihn nicht. Kein Rufen, kein gar nichts. Ich drehte mich noch mal im Kreis und schlug mich dann, weil ich keine Ahnung hatte, was in sämtlichen Richtungen vor mir lag, einfach geradeaus weiter durch. Ich lief noch ein paar Minuten, aber es kam einfach kein Weg und so langsam ließ das Adrenalin nach und mir war eiskalt und die schwarzen Punkte tanzten mir schon wieder vor den Augen. Ich glaubte, dass wenn ich hier draußen blieb, ich kein gutes Ende nehmen würde. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass der dunkelhaarige, fremde Sentinel – oder sonst irgendjemand – mich hier draußen mitten im Nirgendwo finden würde? Und so wie es aussah, war weit und breit kein anderes Haus als das, aus dem ich gerade geflohen war. Ich hatte keinerlei Erinnerung daran, wie genau ich überhaupt hier gelandet war. Also hatte ich auch keinen Plan, in welche Richtung das Internat lag. Ich hatte auch keinen blassen Schimmer, in welche Richtung die nächste Stadt der Profanen lag. Und mir wurde immer kälter. Meine nassen Haare klebten mir am Kopf und für einen regnerischen Morgen Ende Oktober war mein Pyjama einfach nicht die richtige Wahl. Jedenfalls nicht für einen Spaziergang draußen im Freien. Naja, eine gute Sache hatte es: Der Gestank nach Rauch wurde aus meinen Klamotten und meinem Haar gespült. Etwas zumindest. Allerdings konnte ich meine Hände und meine Füße bald nicht mehr spüren und ich ging ungefähr jeden dritten Schritt zu Boden und meine Handballen und Knie sahen bald dementsprechend aus und taten auch dementsprechend weh. Meine Umgebung war schon wieder komplett verschwommen und wieder mal wog ich ab, ob ich nicht besser umkehren sollte. Aber der Sentinel würde garantiert außer sich sein. Ja, und da bleibst du lieber hier draußen und erfrierst, oder was?
Und dann stand ich plötzlich wieder vor dem Haus. Schemenhaft tauchte es vor mir auf – ich musste im Kreis gelaufen sein. In einigen Fenstern brannte Licht, aber ich konnte wegen meiner schlechten Sicht nicht erkennen, ob er drinnen war, oder aber draußen und nach mir suchte. Ich schlang die Arme um meinen Körper und stand dann erst mal draußen und traute mich nicht weiter. Er würde sauer sein. Richtig sauer. Vielleicht sollte ich warten? So lange, bis noch mehr Zeit verstrichen war, dann würde er vielleicht erleichtert sein, dass ich wieder da war und nicht mehr ganz so sauer darüber, dass ich weggelaufen war. Vielleicht würden sich Sorge und Zorn dann ausgleichen. Oder so. Aber mir war so bitter kalt und ich konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten. Also wankte ich vorwärts.
Kapitel 2
Jetzt
„Hallo? Erde an Emily?“
„Hm?“ machte ich und fokussierte Chase, der mir gegenübersaß und machte, dass die Erinnerung an die Zeit da draußen im Wald verblasste. Ein Schauer lief mir über den Rücken als mein Körper die Kälte und die Erschöpfung von damals nachspürte. „Sorry.“
Chase langte über den Tisch und schloss seine Hände um die meinen, so dass wir meinen unberührten Kaffee jetzt mit vier Händen hielten. Er hatte sich leicht vorgelehnt, so dass er auf einer Augenhöhe mit mir war und schien irgendetwas in meinem Blick zu suchen. Aber ich senkte nur den Kopf und starrte stattdessen auf den Milchschaum in meiner Tasse, der schon zu schmelzen begonnen hatte. Chase begann mit dem Daumen über meinen Handrücken zu streichen und mir wurde plötzlich ganz warm.
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