Wieder einmal spielte dieses Lächeln um seinen Mund herum. Das, das dieses Grübchen entstehen ließ.
„Wer weiß denn nicht“, meinte er schulterzuckend – doch es war ziemlich offensichtlich, dass er die Unbekümmertheit nur spielte. „Und nenn mich Matt. Bitte.“
Er lächelte mir aufmunternd zu und ich wusste nicht genau, was ich machen sollte. Ich presste kurz die Lippen aufeinander, nickte, so dass mir das Zimmer vor den Augen tanzte und wisperte ein „Danke“.
„Mh“, brummte er und das Lächeln verschwand, als er anfing mich zu begutachten. „Du siehst reichlich blass aus“, stellte er schließlich fest.
„Nein, alles okay.“
Doch das letzte Wort starb mir auf der Zunge, als er hinter sich griff und einen Teller mit geschnittenen Äpfeln und einem Brötchen darauf zum Vorschein brachte. Ich hatte keine Ahnung, wo er den jetzt so plötzlich hergezaubert hatte. Aber genau genommen war es auch egal, weil sich mir augenblicklich der Magen umdrehte und mir noch schlechter wurde als mir eh schon war. Ich wandte den Kopf ab und versuchte die Übelkeit runterzuschlucken. Was nicht sonderlich gut funktionierte.
„Hier komm, iss was“, forderte er mich freundlich auf und hielt mir den Teller direkt vor die Brust. Ich schüttelte nur den Kopf, was die Sache mit dem Schwindel nicht besser machte. „Hey, nun komm schon.“
Seine Stimme klang lächelnd, freundlich, doch unterschwellig konnte ich ganz genau hören, dass ihn mein Verhalten nervte. Er war es anscheinend nicht gewohnt, dass man nicht das tat, was er sagte. Was, genau genommen, kein Wunder war. Er musste seine Ausbildung vor mindestens 10 Jahren – eher noch mehr – abgeschlossen haben. Ich hatte zu meiner anfänglichen Altersschätzung Abstand genommen und schätzte ihn jetzt auf so 30. Also doppelt so alt wie ich. Nicht, dass er Falten hatte oder so was. Er wirkte nur so… Weiß nicht, erwachsen irgendwie. So, als hätte er eben die Lebenserfahrung, die man mit 25 noch nicht hat. Deswegen 15 Jahre mehr und nicht nur 10. Und wenn er die Ausbildung mit 18 abgeschlossen hatte, so wie es normal für unsereins war, dann gehörte er seit ca. 12 Jahren der Garde an. Und man widerspricht einem Gardisten nun einmal nicht. Egal, ob es ein Steward, ein Spotter oder aber gar ein Sentinel ist.
Jeder in unserer Gesellschaft will Sentinel werden. Das sind die Besten und es werden auch nur die Besten genommen. Spotter zu werden ist auch ganz okay. Man ist auch draußen und spottet eben, wo Gefahr besteht. Aber die, die dann dagegen angehen, das sind eben die Sentinel. Nicht die Spotter. Die unterste Kategorie sind die Stewards. Die sitzen den ganzen Tag lang nur auf ihren vier Buchstaben, sehen Akten durch und stellen sicher, dass alles seine Richtigkeit hat.
Ich wette, er ist Sentinel. Der Gedanke war aufregend und mir schoss das Blut ins Gesicht. Ein Sentinel, der gekommen war, um mich zu retten. Ein Sentinel springt ins lichterloh brennende Internat, um ausgerechnet mich da raus zu holen. Und es war wirklich ziemlich offensichtlich, dass er Sentinel war, da war ich mir ziemlich sicher. Das konnte man schon alleine daran erkennen, wie er sich gab. Von sich überzeugt, immer eine Art Befehlston auf den Lippen – jedenfalls, wenn es darum ging, dass etwas gemacht werden sollte. Und natürlich sein Körperbau. Auch ganz offensichtlich. Athletisch, aber auch mit einer Spur von Feingliedrigkeit. Und dann waren da noch seine Reaktionen. Die waren ebenfalls die eines Sentinels. Obwohl… Alle von uns hatten solche Reaktionen. Das war uns angeboren. Genauso wie die Möglichkeit, die Elemente zu befehligen.
Eigentlich sollen natürlich alle drei – Sentinel, Spotter und Stewards – gleichgestellt sein, aber das ist eben nur theoretisch so. Jeder weiß, dass die Sentinel inoffiziell ganz oben stehen. Fast gleichauf mit unserem Großmeister. Und ist der dann auch noch ein Sentinel, dann olala!
Doch selbst um Steward zu werden, musste man so einiges mitbringen. Man musste nicht nur alle vier Elemente befehligen können, sondern auch akademisch richtig was auf dem Kasten haben. Und wer keine vier Elemente hat, tja, für den heißt es Adieu, Garde . Als Unter-Niveau-Gardist hängt man irgendwie dazwischen. Die Garde will nichts mehr mit einem zu tun haben und in die Welt der Profanen passt man auch nicht, weil man ja über alles Bescheid weiß. Für solche Leute gibt es die Kolonien.
Und wenn man, was echt ganz, ganz selten vorkommt, aus irgendeinem Grund was extrem Bescheuertes anstellt und die Garde einem nicht mehr länger vertraut, dann wird man Deaktiviert. Das ist noch schlimmer als einfach nur so als Unter-Niveau-Gardist in eine der Kolonien verbannt zu werden. Wenn du Deaktiviert wirst, dann werden dir deine Fähigkeiten genommen. Danach wirst du dann trotzdem in die Kolonie gesteckt, weil a) die Garde nichts mehr mit dir zu tun haben will, aber natürlich immer noch ein Auge auf dich haben muss, weil du ja b) unsere Existenz nicht an die Profanen verraten darfst. In die Welt der Profanen hättest du dich eh nicht richtig einleben können. Du weißt eben zu viel. Du passt da nicht rein. Genauso wenig wie die Profanen, die verbotener Weise über uns Bescheid wissen. Die ereilt dasselbe Schicksal. So wie Isabel. Wie es hätte sein sollen. Die hätten sie doch nicht gleich umbringen müssen. Und alle anderen mit ihr! Die hätten sie doch einfach nur-
„Emily.“
Okay, jetzt war es dahin. Das letzte Bisschen Zweifel, dass der Fremde nicht doch vielleicht etwas anderes als ein Sentinel sein konnte. Nur ein Sentinel konnte in einem einzigen Wort eine solche Dringlichkeit, Schärfe und Befehlsgewalt unterbringen. Die waren es nicht anders gewohnt, als dass alles nach ihren Wünschen und Launen sprang. Okay, vielleicht doch nicht so gut, dass er Sentinel ist. Der macht Kleinholz aus dir, wenn du nicht spurst!
„Mh-mh“, versuchte ich es trotzdem und schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. „Sie wusste nichts, echt nicht“, sprudelte es aus mir heraus, bevor ich mich zurückhalten konnte. „Und das mit dem Buch, das war ich nicht.“
„Welches Buch?“
„Nichts,“ murmelte ich, nur um keine schlafenden Hunde zu wecken.
Dann ist das alles vielleicht doch nicht `deswegen´ gewesen? Und Isabel ist doch gar nicht `deswegen´ gestorben? Ich verstand nur noch Bahnhof. Zeus/Matt holte mich dann aber wieder ins Hier und Jetzt zurück, als er den Teller direkt unter meine Nase hielt. Oh Gott, bitte, nehmen Sie das verdammte Ding da weg! Ich hörte ihn durch die Nase ausatmen und hörte mehr als dass ich es wirklich sah, wie er den Teller wirklich wieder wegstellte. Ich wagte einen Blick zu ihm, doch er starrte, nachdem er den Teller weggestellt hatte, aus dem Fenster, so als müsste er erst mal die in ihm aufkeimende Wut drosseln.
Ach komm Em, jetzt komm mal wieder runter. Sentinel hin oder her. Der hat gar keinen Grund sauer auf dich zu sein. Jedenfalls redete ich mir das ein und hoffte – inständig! – dass ich damit Recht behielt. Hoffentlich war das, was da gerade in ihm hochkochte, eher vergleichbar mit einer gewissen Anspannung. Vielleicht nur genervte Irritation, weil ich nicht parierte. Egal, auf jeden Fall war das, was mir ins Auge stach, eher die Tatsache, dass er ein überaus hübsches Profil hatte. Als er dann allerdings den Kopf wieder zu mir herumfahren ließ, starrte ich schnell auf meine Hände, die ich in der Bettdecke verkrampft hatte. Er schien mich non-verbal für mein bescheuertes Verhalten rügen zu wollen, denn ich spürte seinen missbilligenden Blick echt ganz deutlich auf mir. Ich hörte ihn genervt durch die Nase ausatmen, dann nahm er endlich den Blick von mir und langte wieder hinter sich.
„Dann trink wenigstens was.“
Er klang gereizt und weil ich Angst hatte ihn gänzlich wütend auf mich zu machen, nahm ich ihm – ohne ihn dabei anzuschauen – das Glas aus der Hand. Ich konnte ja nichts dazu. Ich hatte ihn noch nicht mal angelogen. Ich hätte wirklich keinen einzigen Bissen runter bekommen. Und die Aktion mit dem Abendessen brauchte ich garantiert nicht noch einmal. Das Glas zitterte in meiner Hand und das Wasser darin schwappte hin und her. Ich nahm auch noch meine andere Hand zur Hilfe, aber das machte es irgendwie auch nicht besser. Und die Tatsache, dass jetzt auch noch die Bettdecke von meinem Oberkörper rutschte, machte alles nur noch schlimmer. Der Geruch von Rauch stieg mir in die Nase. Umhüllte meinen Kopf ganz und gar. Er klebte in meinem Pyjama, in meinen Haaren. Und sofort waren die Schreie wieder da. Isabel, wie sie in Flammen aufging.
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