Jetzt
Ich schreckte klatschnass und zitternd aus dem Schlaf auf und es dauerte einen Moment, bis ich mich orientiert hatte. Bis ich wieder wusste, wo ich war. Die Brückenpfeiler um mich herum waren wieder da. Der Schein der Straßenlampe in der Entfernung. Das Plätschern des Wassers vor mir. Der Wind, der unter der Brücke hindurch fegte. Mir fröstelte und ich zog meine Jacke und die Decke enger um meinen Körper. Aber der Schock, die Erinnerungen, saßen noch zu tief in meinen Knochen und mir war keinesfalls nur wegen des eisigen Windes kalt.
„Hey“, hauchte Chase mit schlaftrunkener Stimme und rieb sich über die Augen.
Er musste in der Nacht wohl von mir abgerückt sein – mir wurde ganz warm, als ich daran dachte, wie wir eingeschlafen waren. Wie nah er mir gewesen war. Sein Atem auf meinem Haar, als er mir „Gute Nacht“ gewünscht hatte.
„Sorry, “ wisperte ich und senkte den Kopf, so dass ich mein glühendes Gesicht hinter meinen Haaren verbergen konnte, „ich… ich wollte dich nicht wecken.“
Er presste nur die Lippen aufeinander und richtete sich auf, jetzt schon nicht mehr so schläfrig.
„Albtraum?“
Alb traum ? Nein, so konnte man es nun wirklich nicht nennen. Es waren Erinnerungen, die mich plagten. So echt und in Farbe, wie nur der Silex sie hat. Ich fühlte mich wieder genauso übermannt wie damals, als es das erste Mal passiert war. Damals, nach Chases Autounfall. Und dabei war ich doch besser geworden. Also, darin, dass ich entschied, wann ich in meine Erinnerungen eintauchte, wann ich mich mit ihnen beschäftigte und nicht so von ihnen heimgesucht wurde, wie sie es gerade mal wieder getan hatten. Aber ich war wohl so fertig, dass sie doch einen Weg in meinen Kopf gefunden hatten.
Er atmete hörbar durch die Nase aus, nicht angepisst – Gott sei Dank! Es war noch nicht lange her, da hatte er mich zum Teufel gewünscht! – sondern mitfühlend und ich senkte meinen Kopf, um mir meine Haare erneut vors Gesicht fallen zu lassen.
„Hey“, machte er leise und ich hörte, wie er zu mir heran rutschte, „ist okay. Sh, ist okay.“
Wie Matt, dachte ich, während Chase von hinten seine Arme um mich legte und mich an sich heranzog. Manchmal, da erinnert er mich echt an Matt. Und wieder einmal fragte ich mich, wie oft Matt ihn wohl genauso im Arm gehalten und genau das zu ihm gesagt hatte, als er noch jünger gewesen war. Ich fühlte mich besser, so in seinen Armen. So, als sei ich nicht mehr ganz allein. So, als sei jemand an meiner Seite. Ich lehnte meinen Oberkörper gegen seinen und er küsste er mich auf die Schläfe.
Fang jetzt nicht an zu heulen, Em! Fang jetzt bloß nicht an zu heulen! Es kostete mich echt einiges an Überwindung nicht hier an Ort und Stelle in tausend Teile zu zerbrechen und den Tränen und der Hoffnungslosigkeit und meiner Angst freien Lauf zu lassen.
Damals
Er schüttelt mich, aber alles was ich will, ist von ihm wegzukommen. Isabel zur Hilfe zu eilen. Sie liegt am Boden. Wahrscheinlich ohnmächtig. Ich muss da wieder rein, verdammt! Ich muss sie da rausholen. Das ist alles meine Schuld! Die denken, ich hab ihr das Buch über uns gegeben! Ich muss-
Ein Schmerz schießt durch meine rechte Wange und es dauert einen Augenblick, bis ich verstehe, wo er hergekommen ist. Zeus hat mit dem Brüllen aufgehört, atmet aber noch in heftigen Schüben, so dass sich seine Nasenflügel blähen. Seine linke Hand hält immer noch krampfhaft meinen Oberarm fest, doch mit der rechten hält er mich nicht mehr.
„Du kannst ihr nicht mehr helfen“, sagt er bitter und es ist irgendwie sonderbar final.
Sämtliche Hoffnung, die ich eben noch gehabt habe, ist dahin. Ich fühle mich kalt und leer und am liebsten würde ich mich einfach hier an Ort und Stelle auf dem Boden niederlassen. Mich zusammenkauern und anfangen zu heulen.
„Komm.“
Sein Griff um meinen Arm wird fester, als er sich in Bewegung setzt. Innerlich taub folge ich ihm wie in Trance, als er sich von dem brennenden Internat wegbewegt. Sein Griff wird lockerer, als er merkt, dass ich mich nicht mehr wehre. Aus dem Augenwinkel sehe ich die Lichter der Feuerwehr die Allee hinaufeilen. Zu spät. Viel zu spät. Keiner mehr da, den ihr retten könnt.
„Emily?“ dringt Zeus Stimme fast sanft zu mir durch.
Er presst die Lippen aufeinander, so dass oberhalb seines rechten Mundwinkels ein Grübchen erscheint und nickt mit dem Kopf. Weg vom Internat. Aber ich sehe ihn kaum. Nicht wirklich. Ich sehe nur immer und immer wieder Isabel vor mir. Wie sie in Flammen steht. Ich höre ihre Schreie. Es geht einfach nicht mehr weg.
***
Es war hell draußen, stellte ich durch noch geschlossene Augenlider fest, und es roch anders. Waldig. Nach Tanne. Ich hörte auch keine Stadtgeräusche mehr. Und vor allem keine Schreie. Kein Feuer.
„Hey.“
Der Zeus-Typ klang besorgt und erleichtert zugleich. Ich hörte das Rascheln seiner Kleidung und dann den Klang seiner Schritte auf dem Boden, als er zu mir herüber kam. Ich schlug die Augen auf und wieder einmal schwebten seine blauen Augen über mir. Wieder zerschnitten von schwarzen Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht gefallen waren. Er hatte einen leichten Bart, fiel mir auf. Über der Oberlippe und am Kinn. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln und oberhalb seines Mundes, in der Falte, die sich von seiner Nase zu seinem rechten Mundwinkel zog, bildete sich eine Art Grübchen. Dann, als sein Lächeln breiter wurde, bildeten sich auch noch welche in seinen Wangen. Ich wusste nicht, warum zum Teufel ihm nach Lächeln zu Mute war. Mir war es das jedenfalls nicht. Mein Haar, meine ganze Kleidung roch immer noch nach Rauch und prompt kamen die Erinnerungen zurück. Das Geschrei. Die Panik. Die Leute, die aus dem fünften Stock sprangen. Isabel! Das Buch mit den Garde-Geschichten! Mir wurde schlagartig übel und er konnte gerade noch zurückspringen, bevor mein Abendessen von gestern sich über seine Schuhe ergoss.
***
Meine Kehle war geschwollen. Mir war kalt. Mein Gesicht brannte – wahrscheinlich von dem Salz meiner Tränen. Das Licht von draußen war jetzt anders. Es musste später sein. Ich machte die Augen auf und versuchte die Übelkeit, die wieder aufkam, zu unterdrücken. Ich richtete mich vorsichtig auf, bis ich auf meinen Unterarmen lehnte und sah mich um. Das Zimmer war hell – Holz, das mit weißer Farbe gestrichen war – und das Sonnenlicht, das durch die Äste der nahestehenden Bäume fiel, tanzte auf der Kommode und den hellen Wänden. Und sofort musste ich an die Flammen denken, die ebenfalls ein Spiel aus Licht und Schatten auf die Bäume und Büsche vor der Schule gezeichnet hatten. Ich schloss die Augen, um die Bilder nicht mehr sehen zu müssen. Aber das half nicht, weil sie sich so sehr in mein Gehirn eingebrannt hatten, dass sie jetzt ganz deutlich auf meinen dunkelroten Augenlidern zu sehen waren. Wie mein eigener kleiner Kinofilm. Untermalt mit den dazugehörigen Geräuschen.
„Emily?“
Ich öffnete die Augen mit einem Ruck und drehte den Kopf. Zeus lehnte angespannt in der Tür und musterte mich, ich hatte ihn nicht mal kommen hören. Es sah fast so aus, als überlege er, ob es sicher war zu mir zu kommen. Ich schluckte noch einmal – was nicht sonderlich viel gegen die Übelkeit machte – und richtete mich zum vollständigen Sitzen auf. Er löste sich jetzt doch von der Tür und kam langsam auf mich zu. Seine hellen Augen musterten mich wie Röntgenstrahlen und ich wandte den Blick ab.
„Wie geht es dir?“ wollte er dann schließlich wissen, als er bei mir angekommen war.
Das Bett ruckelte etwas, als er sich neben meinen Beinen niederließ. Mir war schwindelig, innen drin fühlte ich mich immer noch taub an und mir war übel.
Aber anstatt ihm das zu sagen, fragte ich: „Woher kennen Sie meinen Namen?“
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