„Wir sind in einer anderen Welt“, rief Cremor, doch Humph gab keine Antwort.
Es war schon recht dunkel, als die Täler wieder breiter und der moorige Weg zwischen Rinnsalen und Pfützen erkennbar wurde.
Plötzlich warnte Cremor halblaut: „Pass auf!“
Humph, der hinter ihm ritt, hatte vor sich hin gedöst, war sofort hellwach und griff zum Säbel. Doch schon waren sie von einer Gruppe Soldaten umzingelt, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Sie hielten Breitschwertern schlagbereit über dem Kopf. Einer baute sich vor Cremor auf und hielt ihm seine langstielige Streitaxt vor die Brust. Humph wurde von hinten die gleiche Waffe auf die Schulter gesetzt, um ihn bei der ersten Abwehrbewegung vom Pferd reißen zu können. Sie hatten die Pferde am Zaum gefasst und hielten sie fest. Der Anführer der Gruppe, der einzige Soldat zu Pferde, befahl ihnen, abzusteigen.
„Wer seid ihr? Was wollt ihr?“
„Wir müssen zu MacAreagh, er erwartet uns. Wir sind Cremor und Humphredus.“
Der Anführer grinste. „Solch lächerliche Namen hat man mir genannt.“ Er befahl den Soldaten, sich zurückzuziehen. „Steigt auf, reitet vor mir. Ich weise euch den Weg.“
Cremor und Humph folgten den Anweisungen ihres Führers, der sich hinter ihnen hielt. Als es dunkel wurde, musste er vorausreiten, um sie zu leiten. Der Weg bis hin zum Pass war steiler gewesen. Dieser hier schien zwar leicht abwärts zu führen, doch wenn der Mond eine Lücke in den Wolken fand, sahen sie, dass sie immer noch inmitten von Hügeln ritten.
Die letzten Stunden hatte es geregnet, und die Gruppe war völlig durchnässt. Nun hatte der Regen nachgelassen, die Wolken rissen auf und machten die Gegend frei für das Licht des Mondes. Der Weg wurde breiter und weniger steinig und die Vegetation reichhaltiger. Das Wasser fiel nicht mehr vom Himmel; es sah aus, als ob es aus der Erde gepresst würde. Hier und da tauchten wieder kleine Gruppen von Rindern auf, doch dauerte es noch eine ganze Weile, bis die Umrisse erster Hütten sichtbar wurden.
Das Tal öffnete sich, wurde flacher, und sie folgten einem Fluss, der sich nach und nach aus unzähligen Rinnsalen gebildet hatte. Cremor und sein Freund waren müde und nass, ihnen war kalt und sie hatten schon lange nichts mehr gegessen.
„Wie lange dauert es noch bis zum Schloss?“, fragte Humph.
„Es wird eine lange Nacht für euch. MacAreagh will euch nach der Ankunft sofort sehen. In einer Stunde sind wir da.“
Ronald MacAreagh hatte seine Chieftains, wovon die meisten auch Landeigner waren, und ihre Offiziere mit Eilboten zu einem außerordentlichen Treffen befohlen. Alle wussten, dass es da keine Entschuldigungen duldete, gar keine, nicht einmal Krankheit. Es dauerte bis zum späteren Nachmittag, bis alle eingetroffen waren.
MacAreagh empfing sie im großen Saal des Schlosses Blackhill. Der Tisch, an dem über zwanzig Personen saßen, hätte auch dreimal so vielen Leuten Platz geboten. Von den zahlreichen engen Fenstern an der Seitenwand gelangte gerade noch genügend Licht in den Raum. In der Rückwand lag das wuchtige Eingangstor aus Holz, flankiert von zwei mannshohen Feuerstellen — je eine weitere befand sich in den beiden Querwänden. Die freien Steinwände entlang waren massive Kredenzen und Schränke aus Eichenholz sowie etliche schwere Stühle mit senkrechten Lehnen aufgereiht. Die rauchgeschwärzten Mauern schienen im düsteren Licht endlos hoch.
Der Raum war schmucklos, bis auf eine in dieser Umgebung seltsam anmutende Standuhr aus Nussbaum mit feinsten Einlegearbeiten im Muster von Vögeln und Blumen. Es war ein Geschenk von Lady Margaret, Ronalds Gemahlin. Die Zeiger waren stehen geblieben.
Die Offiziere hatten wie gewohnt am unteren Ende des großen Tisches ihre Plätze bezogen. Die Sitzordnung entsprach ihrer wechselnden Bedeutung untereinander und dem wechselnden Einfluss der Chieftains. So kam es, dass sie sich meist zuerst scheinheilig um die Stühle gruppierten, noch bevor ihre Oberen eintrafen, einander umzirkelten, diskutierten, sich in den Vordergrund drängten oder rasch den zweitbesten Stuhl wählten. Irgendwann saß dann jeder an einem Platz, mit dem er mehr oder weniger zufrieden war. Sie hatten das Recht zuzuhören, aber die Pflicht zu schweigen. In einigem Abstand zu ihnen ordneten sich am oberen Ende des Tisches die sechs Chieftains ein, die regionalen Führer des Clans. Auch ihre Sitzordnung konnte sich ändern, doch in viel längeren Intervallen als bei ihren Offizieren, und sie wurde durch MacAreagh bestimmt. Die Chieftains trugen ihre Mützen mit den zwei Adlerfedern als Zeichen ihres Ranges.
An der Kopfseite befand sich ein weiterer kleinerer Tisch, hinter dem Ronald MacAreagh thronte, flankiert von Osgar, dem Kommandanten der Leibwache; sie nannten ihn den General . Im Hintergrund hatten sich der Schlossverwalter, der Zahlmeister sowie MacAreaghs Sekretär eingerichtet. Der Clan-Piper spielte zur Begrüßung der Gäste auf.
Ronald gebot dem Pfeifer Einhalt, schaute in die Tiefe des Raumes und wartete ungeduldig, bis sich jeder eingerichtet hatte. Direkt neben ihm an der Längsseite saß Ramsay, der Rangälteste der Chieftains. Ihm gegenüber hatte Dougal seinen Platz und neben ihnen jeweils zwei weitere Chieftains, die entweder jünger waren oder weniger große Gebiete ihr eigen nennen konnten. MacAreagh wusste wer wo saß, ohne jemanden ansehen zu müssen. Im halbdunklen Raum wäre es auch schwierig jeden zu erkennen, denn auf ihre Art sahen alle gleich aus: schulterlange Haare, die unter ihren Mützen, die sie kaum mal ablegten, hervorquollen, üppige Bärte, und ihre Körper bedeckt mit den rotbraunen Umhängen. Und so waren auch alle ihre Soldaten gekleidet. Alle waren sich ähnlich, auch die Offiziere am Ende des Tisches, alle trugen die gleichen Kilts, mit den Umhängen daran, aus einem Stück gewoben, das Oberteil um die Schultern geschlungen.
John Dougal machte die Ausnahme. Er trug einen separaten Kilt, gehalten von einem breiten Ledergürtel mit massiver Schnalle und darüber eine Uniformjacke. Seinen Umhang hatte er abgelegt.
MacAreagh schaute in die Runde. Sein helles Leinenhemd, unter einer Weste aus Leder, hing über einen verwaschenen Kilt, aus dem nackte Beine den Boden fanden. Links und rechts neben seinen Füßen lag je ein Stiefel.
„Was steht an?“ MacAreaghs Stimme tönte nicht sehr interessiert.
Dieser und jener brachte sein Anliegen ein, von Pächtern, die in die eigenen Taschen wirtschafteten, und von Bauern, die unfähig waren, ihre Pachtzinsen in Form von Getreide, Schafen oder Kühen zu bezahlen, von Viehdiebstahl untereinander.
MacAreagh wischte mit der Hand ein paar Mal durch die Luft. „Wenn sie Vieh stehlen, um die Pacht zu bezahlen, sind sie unfähig als Bauern. Da müssen wir unnachsichtig sein. Wer den Nachbarn bestiehlt, ist ein Schädling. Der wird ausgemerzt. Wir werden sie mit dem Tode bestrafen. Dann hört das wie von selbst auf!“ Mit MacAreagh konnte nicht verhandelt werden. „Ihr seid mir verantwortlich für die Abgaben. Euer Gejammer geht mir auf die Nerven. Wenn die Bauern nicht bezahlen, dann nehmt ihnen das Land weg. Stellt Schafherden darauf. Die bringen mehr Geld, als die mageren Rinder, und sie bringen Wolle dazu.“
„Und was geschieht mit den Leuten?“, wandte einer ein.
MacAreagh sah ihn scharf an. „Mein Lieber, du bist Herr in deinem Gebiet. Du hast Zugang zum Meer. Die Schiffe können dir Schafe bringen. Und wenn die Schiffe leer sind, bieten sie Platz für deine missratenen Bauern. Gib ihnen eine neue Chance. Sie können in den Süden gehen und dort arbeiten.“ MacAreaghs Augen wurden schmal. „Und wenn du schlau bist, dann verlade sie auf ein Schiff nach Amerika. Dort tut schottisches Blut gut. Der Schiffseigner wird dich für sie sogar bezahlen. Doch die kräftigsten deiner Bauern bilden wir zu Soldaten aus. Osgar wird sie abholen lassen.“
Читать дальше