Das Bauhaus machte ich verantwortlich für eine Architektur, die sich darin erschöpfte, Karnickelställe über und nebeneinander zu packen, und das Ganze mit einem schnörkel- und phantasielosen Schuhkarton zu umschließen.
Wörlitz war anders. Ein Wunder. Fürst Franz, der Erbauer, gefiel mir. Er hatte von Anfang an seinen Park den Landeskindern geöffnet. Er führte große Wirtschafts und Schulreformen durch. Er mochte an den Kriegszügen von Friedrich II. nicht teilnehmen. Und ich glaube heute, Fürst Franz war ein bisschen schwul. Kunstwerke in seinem Schloss nähren diesen Verdacht.
Wörlitz war auch der Anlass, sich schon früh mit den verschiedenen Architekturstilen auseinanderzusetzen. Ich konnte damals schon ziemlich gut unterscheiden, was wirklich alt und ehrwürdig war und was nur so aussah als ob, aber in Wirklichkeit der vielgeschmähten Gründerzeit angehörte. Beispiele gab es in Hülle und Fülle in Wittenberg und Coswig, die vom Bombenhagel verschont geblieben waren.
In Coswig gab es nicht einen einzigen Neubau, alles besaß ein gewisses Alter. Richtig alt waren Schloss, Rathaus und Kirche, sowie die meisten Bürgerhäuser der Hauptstraße. Jedoch die Bauwerke, die die Haupteinkaufsstraße flankierten, konnte man fast alle getrost jener verfemten Gründerepoche zuordnen, deren Schmuckelemente so verdächtig gleichmäßig waren, dass sie nur in einer Fabrik produziert worden sein konnten.
Oft hatte ich an Coswigs großer Kreuzung gestanden und zum übertrieben verschnörkelten Balkon des nicht gerade bescheidenen Eckhauses hinaufgeblickt. Ganz so schlecht wie die Anderen, die das vollkommen unmoderne Haus regelrecht niedermachten, fand ich es nun auch gerade wieder nicht. Eigentlich war es doch ganz schön, nur nicht so alt, seine Errichtung lag noch keine fünfzig Jahre zurück. Im Grunde war es doch viel hübscher als das Haus, in dem wir wohnten, und das keinerlei Stuckaturen aufzuweisen hatte. Altehrwürdig würde es vielleicht in hundert Jahren sein. Doch dann wäre ich selbst schon nicht mehr unter den Lebenden, was ich mir schlichtweg nicht vorstellen konnte.
Im Wörlitzer Park gab es ein venezianisch-gotisches Haus, eine mittelalterliche Burgruine, römische Villen und Tempel, eine barocke Synagoge, antike Säulen und Grotten, in denen steinerne Götter lagerten. Sogar eine Nachbildung des feuerspeienden Vesuvs, eigentlich ein Feldsteinhaufen mit angebautem Wasserschlösschen, stand in der hintersten Ecke. Irgendwie ein frühes Disney-Land für die gebildeten Stände, und leider ohne Achterbahn. Doch genau so lehrreich.
Auch die Coswiger Kirche besuchte ich sonntags weniger aus Frömmigkeit, sondern weil ich gern in ihrem barock ausgestatteten Innneren saß. Ich bewunderte die reich beschnitzte vergoldete Kanzel, die bemalten Emporen, die seitlich des Kirchenschiffs verliefen, und vor allem den prunkenden Altar mit der Darstellung eines himmelfahrenden Christus. Auf dem Bild hielt der durch Wolken emporsteigende Erretter, die rechte Hand wie zum Schwur erhoben, dem himmlischen Vater entgegen, während er unverwandt und streng uns erbärmlichen Sündern entgegen starrte. Mit der Linken zog er ein barock endlos gefältetes Gewand hinter sich her, das außerordentlich unbequem wirkte.
Ich ging aus einem gewissen Unterhaltungsbedürfnis zum Gottesdienst, Orgel und Gesang sorgten für Abwechslung. Auf dem Land ist das eben so. Auch am freiwilligen Religionsunterricht, der nachmittags in den Klosterräumen erteilt wurde, nahm ich aus ähnlichen Beweggründen teil. Da wurden doch hochinteressante Geschichten aus der Bibel erzählt. Zu Hause hörte man davon nie, die Eltern und der Bruder waren keine Kirchgänger. Natürlich war ich auch ein wenig fromm geworden, das bleibt bei einem solchen Lebenswandel eben nicht aus.
Unser Rathaus aus der Renaissance-Zeit beherbergte ein kleines Heimatmuseum. Der Marktplatz daneben war zu Gunsten eines Feuerlöschteiches geopfert worden. Manfred Krug planschte in dem Film Die Spur der Steine splitterfasernackt darin herum. Auch ein Wettschwimmen hatte einmal darin stattgefunden. Ansonsten durfte man dort nicht baden, wurde der Teich doch zu ernsteren Zwecken benötigt.
Coswigs größte Attraktion aber war das Schloss. Und eben dieses konnte man nie aus der Nähe betrachten. Es war zum Zuchthaus für politische Gefangene geworden und eine Hohe Mauer trennte es zur Straße hin ab. Seine vier Türme mit den breiten, vielgetreppten Renaissance-Giebeln und den behäbigen Dachhauben, die wie riesige Schlafmützen wirkten, lagen fernab und unerreichbar. Gelegentlich sah man in den vergitterten Fensterhöhlen den hellen Schemen eines Gesichts. Zu weit, um Näheres zu erkennen. Ein unheimliches Gebäude. Wie ein Märchenschloss, in dem ein grausamer Zauberer sein Unwesen trieb. Grauen sickerte aus seinen Mauern, und Dornröschen wohnte schon lange nicht mehr dort. Über seinen Dächern schienen die Wolken dunkler und tiefer, die Luft trüber, und die Vögel verwandelten sich in Raben. Auf der Elbseite, von ferne, sah es ein wenig freundlicher aus, fast konnte man sich vorstellen, wie einst frohe Feste mit Musik in seinen Mauern stattgefunden hatten. Doch in der Nähe herrschte brütendes Schweigen und Geheimnis, und die dunklen Fensterhöhlen schrien verborgenes Leid.
Der Gifthauch, den es ausschwitzte, hatte sämtliches Grün der Umgebung ersterben lassen. So schien es jedenfalls. Kein Baum, kein Strauch füllte die große Fläche bis zur schützenden Mauer, die es umgab.
Das Schloss besaß noch eine unheimliche Eigenschaft. Obwohl es, breit hingelagert in der Mitte der Stadt, das Flussufer unübersehbar beherrschte, konnte es sich offensichtlich unsichtbar machen. Die Bevölkerung rings umher tat so, als sei es nicht vorhanden. Niemand sprach darüber, und fragte man Jemanden tatsächlich einmal danach, erhielt man eine hastige Auskunft im Flüsterton. Jahrhundertelang war es, als Witwensitz erbaut, der Mittelpunkt der Stadt gewesen, und Coswigs Bürgerschaft hatte ihm einiges zu verdanken.
Jetzt war es so, als sei es nicht vorhanden. Man hatte es weitgehend aus dem Bewusstsein verdrängt, um nicht an die Gräuel, die im Inneren der vierflügeligen Anlage stattfanden, erinnert zu werden.
Bei uns Popigs funktionierte der Verdrängungsmechanismus leider überhaupt nicht, waren uns doch Erntehelfer aus dem Schloss für Vaters Gemüsepflanzung
aufgezwungen worden. Mit Schaudern denke ich noch an die schwerbewachte Truppe schweigender Gefangener, die, bei Wind und Wetter, wie Sklaven Frondienste verrichteten. Für sie herrschte strengstes Redeverbot und auch wir waren angewiesen worden, keinesfalls mit ihnen zu sprechen. Als Lohn für ihre Mühe ließen die Wärter den ausgemergelten Gestalten einen Kessel Pellkartoffeln mit Salz zukommen. Man hatte uns befohlen, die zur Schweinemast aussortierten angefaulten Erdäpfel abzukochen. Das sei für diese Schwerverbrecher vollkommen ausreichend. Und so saßen oder besser standen des Abends die todmüden Gestalten, deren Augen meist leer und ausgebrannt wirkten, auf der amerikanischen Veranda hinter unserem Haus, während sie das appetitlich duftende Mahl verzehrten. Unsere pfiffige Mutter hatte tatsächlich einige faule Kartoffeln untergemischt, um die Bewacher zu täuschen, die mit Argusaugen den hohlwangigen Trupp belauerten. In ihrer Kittelschürze versteckt trug sie Speck und Wurst oder Käse, den sie in unbeobachteten Momenten den Gequälten heimlich zusteckte. Leider gelang es nicht immer, die Wärter waren zu professionell, aber immer öfter traf sie ein kurzer, dankbarer Blick.
Ich stand meist mit vor Mitleid brennendem Blick daneben. Politische Gefangene! Was war das eigentlich?Wie Schwerverbrecher sahen sie eigentlich nicht aus, und meine Furcht vor ihnen hielt sich in Grenzen. Volksverräter waren sie - was hatten sie getan, wen verraten?Würden die Eltern ebenso behandelt, falls ich sie beiden Behörden meldete? Ein Frösteln kroch über meinen Rücken.
Читать дальше