Mir war das egal - spielte ich doch ohnehin nicht so gern mit dem technischen Kram wie der Bruder, sondern verschönerte lieber die Oberfläche der Anlage mit selbstgebastelten Häusern der damals so beliebten Papierbastelbögen, aus denen sich die wunderbarsten Architekturen ausschneiden, falzen und kleben ließen. Doch waren die Feiertage wieder vorbei, blieb uns Brüdern das Feld im alten Büro überlassen, und die mit uns befreundeten Kinder schlüpften meist ungesehen durch den Vorderflur, der zum Treppenhaus mit einer Glastüre aus Riffelglas abgeschottet war, zu uns herein.
In diesem Flur, der eigentlich eher ein gekachelter, leerer Vorderraum war, fanden auch die vielen Kasperle-Vorstellungen für die Nachbarschaftskinder statt, besonders bejubelt, wenn Vater das große Theater vom Speicher anschleppte, hinter dem er selbst stehen konnte und selbst eine Vorstellung gab. Was nur leider viel zu selten geschah.
Es gab drei Puppentheater im Haus Popig. Das große von Hans stammte noch aus Übersee. Es gab für mich ein kleines, wackliges Tischmodell, und ein mittelgroßes, das ich aus dem begehbaren Kaufmannsladen geschaffen hatte. Der Kaufmannsladen hatte als solcher mein Interesse verloren. Es war auf Dauer ein wenig langweilig geworden, mit nutzlosen Dingen, wie Steinchen, Sand oder Tonmurmeln, zu handeln. Es musste etwas Besseres her, etwas, das man wirklich verkaufen konnte. Die Wahl war auf den halbvergammelten Blumenkohlhaufen von der Plantage gefallen, der aussortiert noch im Hof herumlag und ich hatte die noch genießbaren Teile herausgebrochen und mein Warenlager damit gefüllt. Vorm Haus aufgestellt hatte das neue Geschäft, welches Blumenkohl zu Pfennigspreisen offerierte, ausgesprochen floriert, bis die erschütterten Eltern, angelockt vom Trubel, merkten, was ihr blondes Kind da wieder trieb.
Die zweite strenge Ermahnung meines Lebens war fällig geworden. (Die erste kassierte ich nach dem Ver schönerungsversuch mit Tuschfarben auf der hässlichen dunklen Holztäfelung des Esszimmers.) Und sogar Tante Weinert hatte mir empört erklärt:
»Mit Gottes Gaben spielt man nicht!«
Gerade von ihr, die selbst den ganzen Tag mit Wein und Spirituosen ihr Geld verdiente, hatte ich mehr Verständnis erwartet, schließlich war es nicht nur ein Spiel gewesen. Ich hatte meinen Beitrag zur Versorgung geleistet und auch das eingenommene Geld war echt gewesen. Wirklich, Undank ist der Welt Lohn. Nicht einmal die spektakuläre Summe von vierundneunzig Pfennigen, die nach Kassensturz verblieben, hatte ihr Interesse geweckt. Dieses Spiel war mir schlichtweg verboten worden.
Danach hatte ich die gesamte Inneneinrichtung des Ladens dem Bruder überlassen, der einen sonderbaren Zerstörungstrieb entwickelte und getreulich all die Schubkästen und Vitrinen in Trümmer verwandelte, und so den Weg zu einem größeren Puppentheater freilegte.
Für die Theatervorstellungen brauchten wir eine Erlaubnis unserer offiziellen Erziehungsberechtigten, sie wären auch schlecht zu verheimlichen gewesen. Jedoch zu dem Wunder der Eisenbahn gelangten die meisten Nachbarschaftskinder ungesehen. Die lieben Eltern wären vermutlich fassungslos gewesen, hätten sie auch nur geahnt, wie viele Mitspieler sich um die Sperrholzplatte scharten, auf der stets eifriger Verkehr herrschte, an-geleitet vom Bruder, der die Trafos bediente. Hatte sie doch schon die Schlange der Wartenden vor meinem kleinen Geschäft äußerst beunruhigt. Doch wir spielten leise, und nur bei den Diskussionen, wer als nächster die Trafos bedienen durfte, wurde es ein wenig lauter.
Ich war eben ein Kind, das mit allen gut Freund sein wollte und das gelang mir verdammt gut. Es war mir ein Bedürfnis zu teilen, denn allein machten die Sachen wenig Spaß. Ich sammelte geradezu Freunde. Und so ist es lange Zeit geblieben. So verschenkte ich auch völlig uneigennützig die mit Butterpilzen und Maronen gefüllten Spankörbe, die ich im Herbst als begeisterte Sammler aus dem nahegelegenen Wald anschleppte, mochte ich doch das glitschige Zeugs ums Verrecken nicht. Ich aß nur Pfifferlinge, die ich in den Schonungen, durch die die Erwachsenen sich nicht durchzwängen konnten, nur selten fand. Die Körbe mit Pfifferlingen passierten meist ungesehen den Hintereingang unseres Hauses, so wie auch der viele Spargel im Frühjahr, den ich mir selbst nur mit Widerwillen einzuverleiben vermochte. Gern aß ich nur die Köpfe.
Das hat sich allerdings grundlegend geändert in unserem Erwachsenendasein; bei Peter, wie bei mir. Doch damals aß der Bruder kaum etwas richtig gern. Ein mäkeligeres Kind sah man selten. Die Eltern waren manchmal regelrecht verzweifelt - nichts war recht. Der Fettrand am Kotelett nicht, das magere Fleisch dann leider auch nicht, und Gemüse rührte ihn zu Tränen der Wut. Nur mit Zuckerzeug konnte man sein Leben versüßen und er futterte mit Begeisterung die bunten Fondantkringel vom Weihnachtsbaum, oder die halben Ostereier mit den quittengelben Dottern aus der gleichen zahnfreundlichen und zart schmelzenden Masse.
Schokolade war zum Fremdwort geworden, auch für uns. Die Ersatzpasten, die im Handel angeboten wurden, schmeckten wie gemahlener Bimsstein, und oft stand ich sehnsüchtig vor dem stillgelegten Schokoladenautomaten mit der lustigen Bärenkapelle, die nicht mehr tanzte und spielte, und überlegte, wie schön es doch in Friedenszeiten gewesen sein musste. Für nur zwanzig Pfennige hätte man so einfach eine Tafel ziehen können und dabei auch noch die Puppen tanzen lassen. Was für eine wunderbare Zeit das wohl gewesen sein muss. Alle sprachen nur von dem Wohlstand, der vormals geherrscht hatte und wie billig es in Friedenszeiten gewesen war. Jetzt gab es nur rote Kunstbrause und Bier in der Elbterrasse, letzte stumme Zeugin vergangener Pracht.
Wörlitz hat mich immer begleitet. Wörlitz ist an allem Schuld! Der Eindruck war zu überwältigend. Stellen Sie sich das nachkriegsgraue Coswig auf der einen Elbseite vor, durch das die Panzer und Autos der sowjetischen Besatzer rollten. Die einzigen Farbflecken waren die vielen roten Spruchbänder, auf denen der Sieg des Sozialismus gefeiert wurde. Auf der anderen Elbseite, durch einen strammen Fußmarsch gut erreichbar, die heitere gelb-weiße, klassizistische Architektur des Wörlitzer Schlosses mit seinen vielen zusätzlichen Schmuckbauten. Für ein Kinderherz barg dieser Garten eine überwältigende Fülle an Attraktionen. Da gab es Kettenbrücken, über die man ganz schnell laufen musste, weil sie sonst zu schnell hin und her schwangen. Wackelbrücken, eigentlich kleine Flöße, auf denen man zum nächsten Inselchen balancieren musste, richtige Höhlen, dunkle Durchgänge, in denen sich so schön schaudern ließ. Einen Irrgarten, Tempelchen, Grotten, verschiedene Gemäuer, an jeder Ecke war etwas anderes. In der Mitte lag das berühmte Schloss. Wer keine Lust mehr hatte, durch diesen Garten Eden zu wandern, konnte sich in eine Gondel setzen und von Schwänen begleitet über die vielen Teiche und Kanäle rudern lassen.
Dieser Park wurde in meiner Erinnerung dann auch prompt zum Symbol für das verlorene Paradies meiner Kindheit. Bei späteren Besuchen habe ich feststellen können wie sehr dieser Park, ohne dass es mir bewusst wurde, mein ganzes Schönheitsempfinden prägte.
Dann gab es in Dessau noch das berühmtere Bauhaus. Ein modernes Bauwerk aus Stahl und Glas. Meine Eltern zeigten es mir, in seinem Nachkriegszustand, mit abgeplatztem Putz schien es mir damals eher erbärmlich. Heute, wo es herausgeputzt wieder da steht, ist es viel beeindruckender. Damals schien es mir nichtssagend, schmucklos und langweilig.
Eine Enttäuschung - dabei sollte ich später mit den Lehren des Bauhauses so vertraut werden. Aber immer habe ich heimlich an Wörlitz gedacht - auch wenn mir anfangs selbst nicht ganz klar war, warum ich Antiquitäten so heiß liebte und begehrte. Bauhaus stand für die Moderne, Wörlitz für den Zaubergarten der Phantasie. Dabei blieb es auch später.
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