»Mr. Goodie ist nicht zu Hause.« Er machte eine Pause, denn es kostete ihn einige Anstrengung, sich auf Ortsnamen zu besinnen. »Er ist in Don-cast-ro.«
»Ach, Sie meinen Doncaster?«
Er nickte. »Si – ja, Doncastro.«
Sein Gesicht kam ihr bekannt vor; sie mußte diese abstoßenden Züge schon einmal gesehen haben.
»Ich bin die Eigentümerin dieses Landsitzes«, sagte sie dann auf spanisch. »Das ist mein Haus.« Sie zeigte zu den Nussbäumen hinüber. »Señor Goodie hat die Schlüssel.«
Er sah sie ungewiß an, aber sie konnte nichts aus seinem Gesichtsausdruck entnehmen.
»Der Patron ist fort, Señorita. Er ist nach Doncastro, um Pferde zu kaufen. Ich bin nur sein Diener und kann Ihnen keine weitere Auskunft geben.«
Er wandte sich dem Haus zu und schloß hinter sich die Tür.
Sie sah ihm ärgerlich nach, dann ging sie zum Auto zurück.
»Wer war denn der Mann?« fragte Garcia ungewöhnlich erregt. »Den kenne ich doch! Das war Manuel Concepcione! Der gemeine Kerl war früher auf meiner Estanzia. – Sah er nicht wie ein Spanier aus?«
»Ja, er sprach sogar spanisch. Meiner Meinung nach ist er ein Halbblut.«
»Es kann sehr gut Manuel gewesen sein. Der ist nämlich verschwunden, das heißt, ich habe ihn fortgejagt. Er ist ein ganz gefährlicher Mensch – ein Dieb, ein Verbrecher! Ich möchte nur wissen, wie der hierherkommt!«
Auch sie hielt es für einen sonderbaren Zufall. Sie hatte mit. dem großen, schweren Wagen gewendet und fuhr nun nach Longhall. Die eisernen Tore waren ebenfalls verschlossen, aber hinter den Bäumen konnte sie das Haus erkennen. Es sah etwas vernachlässigt und verfallen aus; die mit Schotter bestreute Zufahrt war fast ganz mit Unkraut zugewachsen, und das Gras stand fast einen halben Meter hoch.
»Ich muß also doch nach Doncaster fahren, um mir die Schlüssel zu holen«, sagte sie schließlich.
Sie war sehr energisch und handelte dementsprechend. Bis zur äußersten Grenze von Europa wäre sie gefahren, nur um sich die Schlüssel zu beschaffen. Denn in diesem Haus hatten ihre Vorfahren gelebt.
Als sie nach der Hauptstraße zurückfuhr, rief Garcia plötzlich erstaunt aus: »Sehen Sie doch die schönen Tiere!«
Sie entdeckte eine ganze Anzahl Pferde, die einen Abhang hinuntergeführt wurden. Im ganzen konnte sie zwölf zählen. Sie wurden nach den Ställen geführt, die hinter Gillywood Cottage lagen.
»Ach, halten Sie doch bitte an!«
Sie brachte den Wagen zum Stehen, und Garcia stieg aus.
»Einfach prachtvoll! Vielleicht sind sie noch nicht gut trainiert, aber jedenfalls sind es echte Vollblüter!«
Sie war neben ihn getreten und beobachtete ebenfalls.
»Sie müssen Mr. Goodie gehören.«
Als das letzte Pferd hinter einem kleinen Gehölz verschwunden war, rührte sich Mr. Garcia immer noch nicht. Er starrte auf die Baumgruppen, die die weitere Aussicht hemmten.
»Es war ein Fehler, daß ich Ihnen überhaupt wieder Pferde gezeigt habe«, sagte sie lachend. »Sie müssen zu dem großen Rennen nach Doncaster mitkommen.«
Ohne etwas zu erwidern, ging er zum Wagen zurück. Auch während der Rückfahrt nach London sprach er kaum ein Wort.
Als sie ihn am nächsten Morgen in seinem Hotel aufsuchen wollte, um ihn nach Doncaster mitzunehmen, erfuhr sie, daß er noch am Abend abgereist war.
Doncaster wimmelte von Menschen, und am Montagabend herrschte ein so reges Leben in den Straßen der verhältnismäßig kleinen Stadt wie sonst nie im Jahr. Natürlich hatten sich bei dieser Gelegenheit auch viele Budenbesitzer eingefunden, und überall hatten die Buchmacher ihre Stände aufgeschlagen.
Die große Rennwoche fand Mitte September statt; das Saint-Leger war das letzte der großen, klassischen Rennen der Saison. Alle großen Sportsleute, alle Rennstallbesitzer aus dem Norden und Süden Englands kamen hier zusammen, und große Menschenmengen sammelten sich in den Hauptstraßen, um Mitglieder des königlichen Hauses zu sehen, wenn diese ihre Wagen verließen.
Edna Gray hatte einen solchen Betrieb noch nie gesehen. Sie hatte Glück, daß sie nicht nur ein Zimmer zum Schlafen, sondern ein Appartement in einem großen Hause mieten konnte. Die Zimmer waren von einem Lord bestellt worden, der im letzten Augenblick hatte absagen müssen. Die Besitzerin nahm sie daher mit Freuden auf.
Edna sah sich in der Stadt um und ging zur Rennbahn hinaus. Dort war sie in ihrem Element, denn sie liebte Pferde; sie war selbst erstaunt, als sie bei einer Auktion von Einjährigen eifrig mitbot.
Vergebens sah sie sich unter all den vielen Leuten um, ob sie vielleicht Mr. Goodie herausfinden könnte. Sie hätte ihn nicht erkannt, wenn sie ihn gesehen hätte, aber vielleicht hätte ihr der Instinkt geholfen, auf den sie sich schon manchmal hatte verlassen können. Sie fiel überall auf, besonders da sie in Turfkreisen noch nicht bekannt war. Trotz ihrer vierundzwanzig Jahre sah sie aus, als ob sie achtzehn wäre.
Während sie auf der Rennbahn umherging, dachte sie an Alberto Garcia, der ein so großer Pferdefreund und Kenner war. Wie sehr hätte ihn das alles interessiert! Sie seufzte und fühlte sich unendlich verlassen in dieser großen Menge. In Argentinien war sie sich nie so einsam vorgekommen.
Schließlich schlenderte sie zum Marktplatz hinunter und blieb bei einer Menge stehen, die sich um einen kleinen Mann im Jockeyanzug versammelt hatte.
»Ich verkaufe Ihnen den Gewinner des dritten Rennens auf dem Programm! Dieses Pferd geht ganz bestimmt als erstes durchs Ziel! Wenn Sie den Tip von mir kaufen, können Sie ein Vermögen machen. Zufällig ist mir bekannt, daß dies Mr. Triggers diesmalige Transaktion ist, und wenn ich Ihnen das sage, dann wissen Sie, was es bedeutet. Sie wissen genau, daß Sie für einen Shilling dieselbe Information kaufen können, für die die vornehmen Leute Hunderte von Pfund opfern ...«
»So ein Lügenfritze!« sagte jemand dicht neben Edna Gray.
Sie drehte sich schnell um.
Luke stand neben ihr. Er war gut einen Kopf größer als sie und hatte ein schmales, ovales, Gesicht. Sie starrte ihn an und konnte kaum glauben, daß er es wirklich war.
»Ja, ich bin es, und ich weiß auch genau, was Sie denken. Sie kommen sich etwas einsam und verlassen vor. Das kann ich Ihnen nachfühlen. Und außerdem gibt es Leute, denen man einfach nicht entgehen kann – dazu gehöre auch ich.«
»Aber Mr. Luke, wie kommen denn Sie hierher?« fragte sie schnell und lächelte ihn verwundert an.
»Schon an Bord der ›Asturia‹ konnten Sie kaum einen Schritt tun, ohne über meine Füße zu fallen. Ich bin eben der große Weltenbummler ...«
»Aber was machen Sie hier in Doncaster?«
Als sie sich das letztemal an Deck des großen Ozeandampfers gesehen hatten, lehnten sie nebeneinander an der Reling und starrten auf die große Menschenmenge am Kai. Auf der Reise war er einer der interessantesten und nettesten Gesellschafter gewesen, hatte sich immer nützlich gemacht und ihr viel geholfen. Es war allerdings etwas anderes, sich an Bord eines Passagierdampfers mitten auf dem Ozean zu begegnen als hier in dieser unendlich großen Menschenmenge. Es war fast, als ob es das Schicksal so gewollt hätte.
Sie fühlte sich ihm gegenüber etwas scheu. Auf dem Schiff war er ihr bedeutend älter erschienen; jetzt sah er noch sehr jung aus.
»Leute, die lügen können wie gedruckt, machen mir immer Spaß, das heißt, wenn sie überzeugend lügen. Aber dieser Kerl hier versteht das Lügen nicht, über den amüsiere ich mich nicht.«
Er nahm sie am Arm und führte sie aus dem Menschenschwarm hinaus, als ob er das Recht dazu hätte oder ihr Vormund wäre. Von jedem anderen Mann hätte sie das als eine Beleidigung empfunden, aber von ihm ließ sie es sich gefallen.
»Verdient der Mann auf diese Weise seinen Lebensunterhalt?«
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