„Vater unser, der Du bist in Italien und Sizilien und kommst nie in Dein Reich.
Dein Wille geschehe weder im Himmel noch auf Erden.
Bezahle unsere Schulden, wie wir die Deinigen bezahlen.
Führe uns nicht in Versuchung durch Dahn und Lizius.
Erlöse uns vom Übel Deiner Person.“
Nein, nach Italien würde er Lolas wegen nicht reisen müssen, sie wohnte ja in München, sozusagen Wand an Wand mit ihm, und was das Geld betraf, hatte ein König nicht auch das Recht, glücklich zu sein, erst recht jetzt, da er mit seinen sechzig Jahren an einem traurigen Wendepunkt seines Lebens angelangt war, dem Ausklingen seiner besten Mannesjahre und dem unaufhaltsamen Näherrücken des Verfalls? Noch einmal den Reiz der Verliebtheit genießen, die Erregung der Werbung, sich sehnen nach dem Sinnenrausch der Eroberung und der Hingabe einer schönen Frau! Er wollte fühlen, wie ihr Herz höher schlug, wenn er sie in den Armen hielt, er brauchte die körperliche Liebe jetzt umso mehr, da seine eigene Gemahlin erst kürzlich ihren Wunsch geäußert hatte, allein zu schlafen. Gewiss standen und lagen noch Freundinnen unter den Schauspielerinnen des Hoftheaters für ihn bereit, und die Türen der elegantesten Etablissements zum Vergnügen der ehrenwerten Herren würden ihm für seine diskreten Besuche auch weiterhin offenstehen. Aber mit Liebe hatte das alles wenig zu tun, er wollte endlich nach langer Zeit wieder einmal so richtig verliebt sein, als Mann geliebt werden, nicht als König.
Das Pferderennen war beendet, die Zuschauermenge zerstreute sich und wandte sich anderen Volksbelustigungen zu. Ludwig nahm kaum wahr, wie die Männer ihn mit gezogenen Hüten respektvoll begrüßten, wenn er vorbeikam, er fieberte dem Samstag entgegen, der Stunde, in der er „seine“ Lola, ja seine, wie er schon glaubte denken und sagen zu können, auf der Bühne des königlichen Hoftheaters wiedersehen durfte, in spanischer Tracht beim spanischen Tanz.
Vergnügt folgten die Zuschauer dem munteren Treiben der Komödianten auf der Bühne. Wie schon all die Male zuvor fand Der verwunschene Prinz, ein Schwank von Johann von Ploetz, auch diesmal viel Anklang. Lola, die hinter den Kulissen in der Seitengasse ungeduldig auf das Ende des ersten Akts wartete und damit auf ihre Premiere in München, verstand kein Wort, auch nicht als die Darstellerin des Evchen erzählte, wie sie bei einer Maskerade ein ganzes Zimmer voller Adliger davon überzeugt hatte, eine Gräfin zu sein, was sie - Ironie des Schicksals - natürlich genauso wenig war wie Lola Montez eine Spanierin.
Kaum war der Vorhang gefallen, als die Bühnenarbeiter mit geübten Griffen den Szenenaufbau einer Schusterwerkstatt entfernten und die Bühne für Lolas Auftritt einrichteten. Die Musiker im Orchester stimmten noch einmal ihre Instrumente, während Lola ihre Kastagnetten überstreifte. Dann verstummte mit einem Schlag der ohrenverletzende Missklang der Katzenmusik, und als endlich auch das letzte Geraune und Hüsteln der Zuschauer verebbt war, gab der Dirigent das Zeichen zum Einsatz. Nach wenigen Takten zu Los Boleros de Cádiz hob sich der Vorhang vor Lola, die allein mitten auf der Bühne stand, nicht im Trikot mit dem üblichen kurzen Tutu bekleidet, sondern, wie es der König gewünscht, in spanischer Tracht, mit Seide und Spitzen. So wie hier und da ein Diamant darin aufblitzte, so blitzte sie mit ihren betörend strahlenden Augen zur königlichen Loge hinüber, wo sie in dem hellerleuchteten Theater Ludwig deutlich erkennen konnte, und verneigte sich wie eine Grazie vor ihm. Langsam begann sie dann ihren Tanz, wiegte sich geschmeidig in den Hüften zum Klappern der Kastagnetten, steigerte allmählich das Tempo, schneller immer schneller, die ganze Bühne mit ihren Schritten und Sprüngen füllend, wobei sie mal leidenschaftlich, mal schalkhaft lächelnd die Arme über dem Kopf verschlang.
Gefesselt von ihrer exotischen Schönheit verfolgte der König jede Bewegung ihres Körpers, der durch das anliegende, schmiegsame Kostüm voll zur Geltung kam, und war entzückt von der Zierlichkeit ihrer Füße, die der Saum ihres Kleides bisweilen enthüllte. Nie zuvor hatte er eine Spanierin tanzen gesehen, er war verzaubert von dem mitreißenden Wirbel, wie ihn eben nur eine echte Spanierin hinlegen konnte.
Beifall brach los, als sie schließlich endete, aber er brandete nicht so laut auf, wie in Ludwig selbst, ein Glück, dass er schwerhörig war. Wer von den Zuschauern wirklich etwas von Tanzkunst verstand, klatschte mehr aus Höflichkeit gegenüber Seiner Majestät. Kunst kommt von Können, sagten sie sich, und mit dem Können dieser Dame ist es nicht weit her, und echt spanisch scheint ihr Gehopse und Gestampfe auch nicht gerade zu sein. Ihre Zweifel verstärkten sich noch, als sie im zweiten Zwischenakt die Cachucha tanzte und den Oleano , bei dem wenigstens ihre Pantomime beim Ekel über die Spinne an ihrem Körper einigen Eindruck hinterließ. Nicht gerade überwältigend klang der Applaus aus dem Zuschauerraum zu ihr hinauf, nur zweimal wurde sie vor den Vorhang gerufen.
„Ihre feuersprühenden Augen, die edel geformte Nase, überhaupt das hinreißende Profil und die schön geschwungenen Augenbrauen, das vermag jeden zu entzücken“, darin waren sich alle Kritiker in ihrem Urteil einig. Über Lolas tänzerische Fähigkeiten jedoch klafften die Meinungen weit auseinander.
Wie der König darüber dachte, stand, für alle lesbar, in seinem Gesicht geschrieben. Er war hingerissen von ihrer Leidenschaft und Heißblütigkeit, den fesselnden Zügen und ihrem makellosen, verführerischen Körper: ein Rasseweib, wie geschaffen, den Männern den Verstand zu rauben. Ich muss sie für meine Galerie der Schönheiten gewinnen, durchfuhr es, nein durchbebte es ihn, und schon am nächsten Tag schrieb er, von Ungeduld gedrängt, Stieler, dem Hofmaler, unverzüglich mit ihrem Porträt zu beginnen: „Im Fall es geschieht, Tag und Stunde der ersten Sitzung mir angeben, sobald als tunlich.“ Warum er es so eilig hatte, behielt er für sich. Während Stieler sie malte, so malte er sich aus, wollte er die günstige Gelegenheit nutzen, mit ihr zu plaudern, ungestört von jenen Offizieren und anderen jungen Herren, die bereits begonnen hatten, um sie herumzuscharwenzeln wie eine Schar von Gockeln um die einzige Henne auf Erden.
Bis dahin aber wollte er nicht warten und begann sie im Bayerischen Hof zu besuchen, oft zweimal täglich, am Nachmittag und Abend. Die anderen turtelnden Verehrer der schönen Lola gingen ihm dabei taktvoll aus dem Wege, wussten sie doch, dass der König nur unwillig Umgang mit Leuten pflegte, die ihm nicht formell vorgestellt worden waren, und er zudem wegen seiner Schwerhörigkeit die Unterhaltung in kleinem Kreis vorzog. Baron von Maltzahn jedoch war ihm stets ein willkommener Gesprächspartner. Waren sie zu dritt, sprachen sie Französisch; wollte Ludwig mit seiner Lola vertraulich plaudern, wechselten die beiden ins Spanische, für Maltzahns Ohren unverständlich.
Wie der Intendant des Hoftheaters vorausgeahnt hatte, brannte Seine Majestät darauf, Lola wieder tanzen zu sehen, und so musste er schon kurz nach ihrem ersten Gastspiel ein zweites ansetzen, bei dem sie neben ihrer Cachucha auch einen Fandango zum Besten gab zusammen mit einem Mitglied des Ballettkorps, was ihr wiederum zwei Vorhänge einbrachte sowie zwei Girlanden und andere Blumen, die man ihr auf die Bühne warf. Doch der Beifall der einen wurde übertönt durch das laute Zischen der anderen, was den König so in Rage brachte, dass er durch eine Untersuchung die Anstifter dieses unhöflichen Missfallens gegen seinen schönen Gast ausfindig machen ließ. Einer der bösen Buben war ausgerechnet ein Gendarm, der dann auch prompt wegen ungebührlichen Benehmens nach Regensburg versetzt wurde.
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