Karla seufzte.
Von einem nicht allzu weit entfernten Regal beobachtete ein junger Mann die angehende Wissenschaftsjournalistin. Er hatte ein Buch aufgeschlagen und tat so, als würde er etwas darin suchen. Dabei beobachtete er sie aus den Augenwinkeln. Karla war so beschäftigt mit ihrer Aufgabe, dass sie ihn bislang nicht bemerkt hatte. So sollte es, wenn möglich, auch weiterhin bleiben.
Er musste sich einen Plan zurechtlegen, der ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte.
Auf ihrem Tisch lagen reichlich Bücher über die Befreiungskriege. Ob sie mit ihrer Arbeit zusammenhingen oder sie etwas über die Holzkarren finden wollte, wusste er nicht. Bislang handelte es sich ausschließlich um Gesamtübersichten. Tagebücher und Berichte schienen bis auf ein Werk nicht dabei zu sein. Aber warum sollte dort gerade etwas über Heinrich Kalditz oder die Holzkarren drinstehen?
Nun musste nur noch ein Plan her, wie er unverfänglich mit ihr ins Gespräch kam.
Karla blätterte ein Buch über die Völkerschlacht durch, das diese anhand von Augenzeugenberichten schilderte.
Den ersten Tag hatte sie bereits geschafft und noch nichts Passendes für ihren Artikel gefunden. Von irgendwelchen seltsamen Aufträgen war auch nicht die Rede, geschweige von Dingen, die nicht da sein sollten.
Erwartete sie zuviel? Es handelte sich nur um eine Auswahl von Tagebucheinträgen. Zwar waren gewiss die Interessantesten ausgewählt worden. Aber musste das Berichte einschließen, die sich mit dem beschäftigten, nach dem sie suchte? Gab es überhaupt solche Erwähnungen? Antworten darauf würde sie finden, wenn sie das Buch weiter durchsah. Nur hatte sie dazu überhaupt keine Lust mehr.
Ihr Kopf schwirrte, die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen.
Sie brauchte eine Pause von der ganzen Recherche, sonst würde sie bereits heute Abend alles stehen und liegen lassen und aufgeben.
Aus der Ferne beobachtete Markus, wie Karla sich von ihrem Platz erhob. Kurz reckte und streckte sie sich und strebte dem Ausgang zu.
Jetzt oder nie, er musste handeln! Diese Chance würde sich ihm nicht so schnell wieder bieten.
Zielstrebig folgte Markus der Wissenschaftsjournalistin und blieb abrupt stehen, als er sah, wie Karla den Toiletten zustrebte.
Unschlüssig ging er noch ein paar Schritte und bog anschließend in einen Seitengang ein, wo er in einen anderen Saal kam.
Was machte er jetzt? Warten bis seine Zielperson die Toilettenräume verlassen hatte und sie anrempeln? Nein, das war wie aus einem schlechten Film. So würde er nie ein Gespräch in Gange kriegen.
Verdammt, was machte er bloß? Er brauchte dringend eine Idee. Seine Schwestern hätten bestimmt was auf Lager, wie er erfolgreich zum Ziel kommen würde. Aber die waren nicht hier, sondern in alle Winde verstreut. Er war der einzige, der es nicht geschafft hatte aus Papas Einflussbereich zu entfliehen. Das musste er nun ausbaden. Wie er es hasste.
Markus war so in seine Gedanken vertieft, dass er nicht bemerkt hatte, wie er den Weg wieder zurückgegangen war. Erst als er vor dem aufgetürmten Arbeitsplatz der angehenden Wissenschaftsjournalistin zum Stehen gekommen war, nahm er seine Umgebung wieder wahr.
Vor ihm lagen verschiedene Bücher, die teils aufgeschlagen oder mit Papierstreifen markiert waren. Der größte Teil bestand aus Sachbüchern, aber es waren auch Tatsachenberichte dabei.
Diese erregten besonders seine Aufmerksamkeit, denn im Gegensatz zu den Sachbüchern waren sie extra gestapelt worden und vor ihnen lag ein unbeschriebener karierter Schreibblock. Eine gelbe Haftnotiz klebte auf dem jungfräulichen ersten Blatt. Mit Mühe konnte Markus die auf dem Kopf stehende Notiz lesen.
Suche nach Bewachung von Karren, Abkommandierung eines Trupps, um etwas (Karren oder ähnliches) in Sicherheit zu bringen, las er.
Das war eine nützliche Information, die sein Vater sicherlich gerne hätte. Denn anhand der Notiz ließ sich ausmachen, welche Tagebuchseiten die Wissenschaftsjournalistin gefunden hatte. Es musste sich um Seiten handeln, die sich mit der Völkerschlacht befassten. Also hatte sie nichts gefunden, was verriet, welchen Fund Heinrich Kalditz in Moskau gemacht hatte.
Die Euphorie über die Erkenntnis war schnell verflogen, als Markus der Gedanke kam, dass auch Seiten aus der Zeit als Soldat Napoleons dabei sein könnten. Denn ihre eigenen Berichte aus der damaligen Zeit waren nicht vollständig. So wussten sie beispielsweise nur, dass ein wertvoller Fund gemacht, der als Schatz bezeichnet worden war. Sie besaßen die Aufzeichnungen, wo der Schatz sich befunden hatte. Nur um welche Gegenstände es sich genau handelte, wussten sie nicht. Möglicherweise wussten die Wissenschaftsjournalistin und die Archäologin, um was es sich bei dem Schatz handelte. Aber würden sie das auf eine Haftnotiz schreiben?
"Komm, streng dich an!", schallt er sich.
Niemand wäre so dumm, so etwas direkt aufzuschreiben. Genauso wenig wurde damals den Soldaten gesagt, was sie zu bewachen hatten. Selbst wenn alle zur Verschwiegenheit verpflichtet worden wären, irgendjemand hätte geredet und sei es in seinem Tagebuch, wenn er schreiben konnte, oder es wäre auf dem Totenbett oder einer Beichte gewesen. Nein, niemand außer Heinrich Kalditz hatte gewusst, was es zu bewachen galt. Er war in der Position gewesen, den Befehl zu erteilen. Es gab nicht einmal ein Gerücht, dass ein Schatz als Lockmittel für Napoleon gedient hatte, um ihn zu einer Entscheidungsschlacht zu zwingen. Was immer...
"Hey, was machen Sie da?", wurde Markus jäh aus seinen Gedanken gerissen.
Ertappt drehte er sich um und starrte einer zornigen Karla ins Gesicht. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und machte nicht den Eindruck, dass sie leicht zu besänftigen wäre.
Verdammt, was machte er jetzt nur? Er brauchte eine plausible Erklärung - sofort!
Ungeduldig tippte Karla mit ihrem Fuß auf den Boden. Wenn sie nicht sofort irgendeinen Ton hörte, würde sie diesen begriffsstutzigen Trottel zu einem Bibliotheksangestellten schleppen und ihn des versuchten Diebstahls bezichtigen. Ihr Laptop mochte seine besten Jahre hinter sich haben, die Leertaste hakte. Aber technisch war das Gerät noch tadellos in Schuss. Darauf ließen sich problemlos die neuesten Lara Croft-Abenteuer spielen.
"Ich warte", sagte sie zwischen zusammengepressten Zähnen.
"Ich auch", sagte Markus, einer plötzlichen Eingebung folgend, "und zwar auf dieses Buch." Er tippte auf das oberste Buch aus Karlas abgesondertem Stapel.
"Da ich gerade nicht da war, dachten Sie, die Gelegenheit wäre günstig, es mir einfach wegzunehmen. So läuft das nicht. Ich arbeite an einem wichtigen Artikel und brauche dieses Werk dafür."
"Vielleicht sollten wir das woanders besprechen", sagte Markus, dem es sichtlich unangenehm war, dass er von sämtlichen Besuchern des Lesesaals mit vernichtenden Blicken gemustert wurde, weil er die Ruhe störte.
"Na gut", lenkte Karla ein, "gehen wir ins Treppenhaus."
Ihre Laune hatte sich auf dem Weg dorthin keinen Deut gebessert, auch wenn Markus das gehofft hatte.
Was dachte dieser Kerl sich eigentlich? Dass er ihr einfach ein Buch wegnehmen konnte, bloß weil er es angeblich brauchte? Wenigstens fragen hätte er können, auch wenn er es dann ebenfalls nicht bekommen hätte. Einmal während ihres Studiums hatte sie den Fehler begangen, einer Kommilitonin, die sie nicht einmal vom Sehen kannte, ein Buch kurz zu leihen, weil sie es gerade nicht brauchte. Nur hatte sie das Werk nie wieder gesehen, sondern musste eine passende Gelegenheit abwarten bis eines der drei Exemplare wieder im Regal gestanden hatte. Dieser Vorfall hatte sie mehr als eine Woche gekostet, an der sie nicht an ihrer Hausarbeit hatte weiter schreiben können. Seit dem Ereignis war sie vorsichtig, wenn sie etwas verleihen sollte, woran sie später arbeiten wollte. Aber heutzutage wurde nicht mehr gefragt, sondern einfach genommen.
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