Schon am nächsten Morgen verließen Reiter Irilith. Die einen, zu denen auch Fallsta und die beiden Frauen gehörte, ritten nach Westen und die anderen hatten als Ziel Cantrel. Lunete blieb vorerst in der Festung. Sie würde die Burg später verlassen, um die Kämpfe zu organisieren. Früher hatte sie die Kriege den Männern überlassen müssen, zuerst ihrem Vater und ihren Brüdern, später ihrem Gemahl, dem König Meliodas. Eine Frau kämpft nicht, hatte es geheißen. Sie sei nicht hart genug. Kämpfen wäre unweiblich und einer Frau nicht würdig. Deshalb hatte sie damals, während die Männer ins Feld ritten, zu Hause gesessen und hatte mit Bangen gewartet. Sie hatte Stickarbeiten gemacht und Teppiche geknüpft, aber mit ihrem Herzen war sie in den Schlachten gewesen, hatte sich vorgestellt, was ihrem Vater, ihrem Mann im diesem Moment zustoßen konnte, hatte sich alle Gräuel des Krieges ausgemalt und war doch hilflos geblieben. Die Nächte waren lang gewesen. Ihr Körper hatte gezittert und Übelkeit sie gequält. Dennoch durfte sie niemand davon erzählen, musste den Tag über Heiterkeit und Zuversicht verbreiten. Sie musste stark sein, obgleich man sie für zu zart zum Kämpfen hielt. Dieses Warten fand sie ihr Leben lang schlimmer, als der Gefahr ins Auge zu sehen. Einer Frau kann man den Krieg, diese Männerarbeit, nach allgemeiner Meinung nicht zumuten, wohl aber die Kälte in ihrem Kopf und in ihren Gliedern.
Seit dem Tod ihres Mannes hatte Lunete selbst die Rolle der Männer übernommen. Sie gürtete sich mit Waffen und plante Angriffe. Sie zog dies der ehemaligen Geborgenheit fernab von allen Schrecken und Gefahren bei weitem vor.
Botschaften
In Cantrel ging alles seinen gewohnten Gang. Ein Bettler fuhr auf einem vierrädrigen Karren vorüber und stieß sich dabei mit zwei Holzklötzen am Boden ab. Die Leute, die ihn sahen, fragten sich, ob er tatsächlich keine Beine mehr hatte, oder sie nur unter einer alten, speckigen Decke verborgen hielt, um Mitleid zu erregen. Betrunkene torkelten über die Straßen, und vor den Toren machten sich ein paar junge Heißsporne daran, bei den Bauern einsammeln zu gehen. Sklaven hasteten geschäftig zu irgendwelchen Zielen, stets bemüht, es ihren Herren recht zu machen, um Schläge zu vermeiden. Auch ein paar Zwerge hatten sich in die Stadt gewagt. Sie waren hier in Geschäften. Seit die Freier das Heft in der Stadt übernommen hatten, waren Zwerge selten geworden. Sie machten in der Regel einen Bogen um Cantrel, denn dort wurden sie von den ungezügelten Horden verspottet und ab und an sogar geschlagen. Für die Zwerge, die nun hier auftauchten, musste es sich um ein Geschäft mit großem Gewinn handeln.
Drei Wachsoldaten patrouillierten auf der Terrasse vor dem Palast und wurden von zwei gedrungenen Männern mit dunkler Haut und dunklen Haaren beobachtet. Sie waren sehr darum bemüht nicht aufzufallen. Dies wäre jedoch nicht nötig gewesen, denn niemand nahm von den Spähern aus Darken Notiz. Man hatte sie geschickt, um die Lage im Nachbarland zu erkunden. Dort war ein großes Heer bereit, im verhassten Whyten einzufallen. Es galt noch eine alte Rechnung aus dem Großen Krieg zu begleichen. Doch von der Gefahr aus dem Norden ahnte man in Cantrel nichts, und nicht einmal Aramar wusste, dass ein solcher Angriff unmittelbar bevorstand. Er sah Ormors Orokòr als die größte Bedrohung. Nach seiner Überlegung würde es noch eine Weile dauern, bis der Zauberkönig die Niederlage vor Hispoltai überwunden hatte. Dann allerdings war mit einem Kampf auf Leben und Tod zu rechnen.
Die Kundschafter würden ihren Vorgesetzten in Darken melden, dass Whyten mit seiner Hauptstadt Cantrel wie eine reife Frucht vor ihnen lag und nur noch eingenommen werden musste.
Noch zwei andere Gestalten drückten sich in den Schatten eines der großen Häuser. Es waren ein Mann und eine Frau. Für sie war die Gefahr, erkannt zu werden, erheblich größer, denn sie stammten aus Cantrel. Aber man hatte sie in Irilith mit neuen Kleidern versorgt, so dass sie nicht mehr das Bild der Verfemten zeigten. Wenn ihnen bekannte Leute vorübergingen, zogen sie Tücher über ihre Köpfe und vor das Gesicht. Es waren Brana und Grunema, die sich im Morgengrauen an den Wachen am Tor vorbeigedrückt hatten.
Da erschollen plötzlich Fanfaren, und die Leute machten die Straße frei. Von den drei Toren im Westen, Osten und Süden näherten sich nämlich Gruppen von Menschen. Sie schritten in der Straßenmitte und hatten als Ziel den Palast. Voraus lief jeweils ein Mann in prächtigen Kleidern.
Der erste war Freiherr Arakhan aus Muriel. Seinem Vater gehörten zwei Burgen und ein Dorf. Der Freiherr trug goldene Kleider und einen Hut in der gleichen Farbe. Er schritt langsam und war sich seiner Würde bewusst. Hinter ihm kam sein Gefolge, eine Horde wilder Kerle, die einen Menschen schon für ein paar Heller umbrachten. Sie hätten auch Hand an ihren Herren gelegt, wenn es nötig gewesen wäre. Aber so lange dessen Vater regelmäßig Geld schickte, weil er hoffte, bald mit dem Königshaus von Whyten verschwägert zu sein, waren sie treu ergeben.
Der zweite Zug wurde von Krichnar, dem Händler, angeführt. Er stammte aus Paradland. Sein Vater war noch mit der Rucke auf dem Rücken durchs Land gezogen und hatte Eier, Bindfäden und die eine oder andere verbotene Waffe verkauft. Sein Sohn hatte das Geschäft später in die Hand genommen und groß aufgezogen. War bei seinem Vater der Waffenhandel die Ausnahme, so wurde er bei seinem Sohn die Regel. Die Kunden waren recht begierig nach diesen verbotenen Waren, denn jeder ahnte, dass die friedlichen Zeiten bald vorbei sein würden. Sie zahlten jeden Preis. Krichnar vergrößerte mit der Zeit die Auswahl seiner Waffen, bis schließlich Fürsten und sogar Könige nach ihm verlangten. So kam er zu Reichtum. Noch immer besuchte er zwei Mal im Jahr seinen alten Vater, der in bitterer Armut irgendwo als Kostgänger bei einer fremden Familie in Rudia lebte. Dann brachte er ihm ein fettes Stück Fleisch und einen Laib Brot mit. Einmal schenkte er dem Alten sogar einen alten Mantel, den er unterwegs günstig erstanden hatte. Krichnar war bereits in den Vierzigern und hatte einen großen Bauch, den er vor sich herschob. An seinen Fingern blitzten zahllose Ringe, aber sein Gefolge war klein, denn der Händler sah nicht ein, dass er Mäuler unnötig durchfüttern sollte.
Der dritte, der an diesem Vormittag zum Palast schritt, war Wunsid. Er war General und hatte für den verstorbenen König Meliodas gekämpft. Dabei war er in Ehren ergraut. Wunsid war ein aufrechter Mann, der oft die Welt nicht mehr verstand. Er liebte die überschaubaren Verhältnisse einer Schlacht. Da wusste man, die Guten sind auf der eigenen und die Bösen auf der anderen Seite. Als der König überraschend starb, hatte der General das Reich in Gefahr gesehen und sich entschlossen, auf seine alten Tage noch einmal für sein Land in die Bresche zu springen. Nach heftigem Ringen mit sich selbst war er bereit gewesen, die Königswürde auf seine Schultern zu laden und sich in den großen Kreis der Freier eingereiht. Hinter ihm standen einige seiner alten Soldaten.
Das Volk sah den glänzenden Aufzügen fasziniert zu und klatschte auch das eine und andere Mal Beifall, wenn jemand aus dem Gefolge der Freier besonders elegant grüßte. Brana sah ihren Begleiter aufmerksam an. Der nickte sein Einverständnis und beide schlossen sich unauffällig der Menge an. Sie wollten wissen, was sich beim Palast zutragen würde.
Oben auf den Stufen standen die Wachen. Sie hatten von dem kommenden Schauspiel gewusst, und sich darauf vorbereitet. Nun trugen sie ihre Paradeuniformen mit silbernem Brustpanzer und hohen Helmen. Sie standen unbeweglich mit gespreizten Beinen, den Speer mit ausgestrecktem Arm haltend. Ihre Minen waren starr und hoheitsbewusst.
Die drei Züge hatten sich inzwischen vereinigt und machten nun vor der großen, weißen Treppe halt. Die Anführer schritten langsam empor. Nachdem sie den halben Weg zurückgelegt hatten, trat ihnen Kuri von oben entgegen. Auch er war herausgeputzt. Seine Rüstung glänzte in der Sonne.
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