Irilith
Die Burg Irilith war am Ende eines Tales in die südlichen Ausläufer der Ruburhöhen gebaut. Sie glänzte wie auch die Stadt Cantrel ganz in Weiß, und nur die Abendsonne verlieh ihr einen roten Schimmer. Die Leute von Whyten hatten eine Vorliebe für weißen Marmor. Drei Mauern und drei Tore schützten die große Anlage. Jede der Mauern war durch fünf Türme geschützt, und aus dem obersten Mauerring ragte ein hoher Burgfried. Er war der älteste Teil von Irilith. Ehemals stand er allein und trutzig in den Bergen, diente als Schutz und Wohnung und warnte, sich nicht mit den Herren dieses Landes anzulegen. Die königlichen Gemächer befanden sich noch immer in seinen Mauern.
Der sanft ansteigende Hügel, an dessen Ende das erste Tor lag, hatte man kahlgeschlagen, um dem Feind bei einem Angriff keine Deckung zu geben. Nur ein einsamer Baum war stehen geblieben und bog sich im Wind.
„Warum habt Ihr den Baum stehen lassen?“ fragte Smyrna verwundert Girgolo, der neben ihr ritt.
„Warum sollen wir ihn umhauen. Dieser einzelne Baum bietet keine Deckung und kann uns nicht gefährlich werden. Es gibt keinen Grund ihn zu fällen.“
„Aber Ihr habt doch all die anderen Bäume gefällt.“
„Das war nötig, um Angreifern die Deckung zu nehmen.“
„Und warum nicht diesen Baum?“
„Ich sagte Euch schon, weil es nicht nötig war.“
Verwirrt gab die Frau ihrem Pferd die Sporen.
Die fremden Besucher dachten jeder für sich, dass Irilith schöner als Cantrel war. Es passte sich der Landschaft an und versuchte sie nicht mit Prunk zu übertreffen, wie man es bei der Stadt getan hatte. Die ganze Anlage war verteidigungsbereit. Wachen standen unsichtbar am Eingang des Tals und zeigten sich, als sie ihre Herrin wahrnahmen. Auf Felsen und hohen Bäumen tauchten überall Männer auf und hoben grüßend die Arme.
In der Burg wurden sie schon erwartet. Bedienstete nahmen ihnen die Pferde ab und kümmerten sich um das Gepäck. Fallsta wurde in eine warme Kammer gebettet und mit einem Heiltrank versorgt, dann wies man den Gästen Zimmer zu. Später aß man zusammen mit dem ganzen Hof im großen Speisesaal.
Endlich zog man sich zur Beratung zurück. Dies war der Moment, auf den Aramar so dringend gewartet hatte. Doch die Höflichkeit hatte ihm zu warten geboten, bis Lunete bereit war. Nur wenige durften teilnehmen. Das waren Girgolo und Adelamor, die beiden Hauptleute der Königin. Aramar lud Smyrna und Galowyn ein, und als Vertreter des benachbarten Königreichs erschienen Grosskorl und Rimo. Außerdem wurden noch Brana und Grunema hinzu gebeten. Als Ort wurde das Kaminzimmer des Bergfrieds gewählt. Es lag im zweiten Stock des großen Rundbaus. Aus seinen Fenstern hatte man in der Abendsonne einen weiten Blick auf das Vorfeld der Burg, und weit in der Ferne blitzte als weißer Punkt die Stadt Cantrel. Ein großes Feuer wärmte alle nach dem langen Ritt. Grunema übernahm wortlos die Aufgabe, Holz nachzulegen. Überall standen Stühle mit Lehnen und weichen Kissen. Sie tranken heißen Wein mit kräftigen Gewürzen.
„Liebe Freundin“, begann der Zauberer, „erzähle uns zuerst, wie du aus Cantrel entkommen bist. Ich muss gestehen, dass mich dein Verschwinden sehr überrascht hat.“
„Meine Flucht habe ich zwei Männern zu verdanken, meinem Vorsteher der Wache, Kuri, und Dac dem Vespucci. Dac warnte mich vor einem Anschlag auf mein Leben, und Kuri schleuste mich aus der Stadt.“
„Von welcher Gefahr sprach der Vespucci?“
„Ich wusste schon lange, dass die Bürger der Stadt gegen meinen Gemahl und mich feindlich gesinnt waren. Sie misstrauten uns, denn sie befürchteten, wir könnten sie allzu sehr beherrschen. Jedem Fremden, selbst Leuten aus Darken, hätten sie mehr Zuneigung und Vertrauen entgegengebracht als ihren Königen. Je freier die Leute sind, desto mehr kämpfen sie gegen die, die ihre Freiheit schützen.“
Sie sah bei diesen Worten Brana und Grunema an. Grunema nickte, aber Brana widersprach: „Das Zerwürfnis zwischen Euch und so manchen Bürgern will ich nicht leugnen. Doch ein Anschlag auf Euch war nie geplant.“.
Lunete ging darauf nicht weiter ein: „Eines Abends erklärte mir Dac, dass sich die Bewohner der Stadt mit den so genannten Gästen verbündet hätten, um mich in den Kerker zu werfen. Sie wollten eine neue Herrschaftsform einführen. Das Königtum wollten sie abschaffen und ihre eigenen Führer wählen. Die Fremden wären geblieben, um meinem Volk bei diesem Staatsstreich beizustehen. In dieser Nacht packte ich einige persönliche Habseligkeiten, und Kuri brachte mich vor die Tore. Nur Adelamor und Girgolo nahm ich als Begleitung mit. Mit dem Vespucci hatte ich ausgemacht, dass er meine Rolle einnehmen solle, damit mein Verschwinden so lange wie möglich geheim blieb. Ich wollte ein Heer zusammensuchen und meine Stadt befreien.“
„Ihr wolltet also doch die absolute Macht?“ sagte Brana. „Wir sollen alle unterworfen werden?“
„Natürlich nicht“, erwiderte die Königin empört.
„Aber wozu wollt Ihr dann mit einem Heer die Stadt angreifen?“
„Ich will sie nicht angreifen, sondern befreien.“
„Aber Ihr geht doch davon aus, dass wir mit den Fremden gemeinsame Sache machen und wollt uns bekämpfen?“
„Ich kann mich doch nicht einfach absetzen lassen!“
„Das hatten wir doch gar nicht vor!“
Die Stimmen der beiden Frauen wurden immer lauter, da mischte sich Aramar ein: „Die tatsächlichen Sachverhalte klären wir später. Aber, dass es nicht zum Besten steht zwischen der Königin von Whyten und ihrem Volk, das wird selbst in dieser Beratung deutlich. Sage uns Lunete, welche Rolle spielt Kuri?“
„Er ist mein Vertrauter und führt meine Befehle aus. Ich habe ihm gesagt, er soll den Vespucci unterstützen, und das tut er auch. Diesen beiden Männern vertraue ich blind.“
„Hat Euch der Vespucci eine Medizin gegeben?“ mischte sich nun Galowyn ein.
„Was kümmert Euch das?“
„Diese Medizin ist gefährlich. Auch die Königin von Equan und die Königliche Tochter wurden so in Abhängigkeit gebracht.“
„Das ist doch Unsinn! Ich will davon nichts hören! Mich macht man nicht abhängig! Ich bin Königin Lunete aus dem Volk der Achajer, das scheint Ihr zu vergessen!“
Aramar fragte leise: „Hast du noch etwas von dieser Medizin?“
„Natürlich, denn ohne sie könnte ich nicht leben.“
Lunetes Stimme war schneidend geworden und duldete keinen Widerspruch. Alle verstummten bei diesem Zornesausbruch und sahen betreten zu Boden.
Der Zauberer wechselte das Thema: „Wir wollen uns die Lage, in der sich Whyten befindet, vor Augen führen.“
Dann begann er zu erzählen, von Ormor, seiner Befreiung und seinem Wunsch, ganz Centratur in seine Gewalt zu bringen. Smyrna und Galowyn fielen ein. Sie berichteten vom Kampf um Hispoltai und den grausamen Orokòr. Diese Orokòr, so waren sich alle einig, würden in Kürze auch Whyten überfallen. Das Land musste sich dringend rüsten, um diese wilden Horden abzuwehren.
„Wer sollte unser Land verteidigen?“ fragte Brana. „Wir können doch nicht einmal dem Treiben der Freier Einhalt gebieten. Den übermächtigen Heeren des Zauberkönigs sind wir hilflos ausgeliefert.“
„Wohin sind die alten Zeiten entschwunden, als man in ganz Centratur erbleichte, wenn von den Kriegern aus Whyten die Rede war?“ jammerte Grunema. „Damals hat es noch Helden in diesem Land gegeben.“
„Der letzte der Helden war mein Gemahl und er ist tot“, beschied ihm die Königin kurz und fuhr dann fort, „wenn diese Fremden, die wir so lange Gäste genannt haben, endlich unser Land verlassen, werde ich als Königin alle Kräfte sammeln. Dann werden wir stark genug sein und uns verteidigen. Das Übel, an dem alles krankt, sind diese Freier. Sie saugen das Land aus und nehmen uns die Luft zum Atmen.“
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