Leider mussten wir den heutigen 21. Oktober mal wieder größtenteils in einer Reparaturwerkstatt verbringen. Die Radlager der Hinterradbremsen mussten auseinander genommen und gründlich gereinigt werden. Nun dürften sie sich aber wirklich nicht mehr heiß laufen. Es ist schon Abend und Bernd liegt bereits im Bett. Eine leichte Erkältung macht ihm zu schaffen. Ich möchte noch schnell etwas schreiben, denn morgen fahren wir nach Syrien und dann will ich das Kapitel „Türkei“ abgeschlossen haben.
Wir fuhren heute durch ein ziemlich industrialisiertes Gebiet, das uns gar nicht gefallen hat, die Cukurova. Diese Ebene am östlichsten Zipfel des Mittelmeeres ist so fruchtbar, dass es sich lohnte, hier gleich entsprechende Verarbeitungsindustrien aufzubauen. Hier sahen wir auch zum ersten Mal die modernen Nomaden der Türkei: Gelegenheitsarbeiter, die von Feld zu Feld ziehen und ihre Zelte immer gleich neben ihrem Arbeitsplatz aufbauen. Die zerlumpten Behausungen sahen besonders ärmlich aus und das in einer der fruchtbarsten Gegenden der Türkei.
Bernd war heute endlich in einem alten türkischen Bad und zwar in Adana. Dies veranlasste ihn dazu, mir ausführlich darzulegen, dass die Türken eigentlich schon immer ein reinliches Volk gewesen wären. Wo könne man schließlich in Deutschland so alte Badehäuser sehen? Zur Zeit der Erbauung der türkischen Badehäuser wusch man sich in Deutschland noch überhaupt nicht. Und überhaupt würde auch der Brauch der Moslems, sich vor dem Eintreten in eine Moschee die Füße zu waschen, von ihrer Reinlichkeit zeugen. Ja, da hat Bernd schon Recht, aber die Zeiten haben sich, besonders was Deutschland betrifft, sehr geändert
22. Oktober
Wir treffen schon früh am Morgen in Antakya, dem früheren Antiochia, ein. Wir wollen eigentlich nur kurz in dieser kleinen Grenzstadt - knapp 50 km vor der syrischen Grenze - rasten, lernen aber, kaum dass wir den Wagen geparkt haben, einen sehr netten Türken kennen, der früher mal im Tourist Office der Stadt gearbeitet hat, und der uns beredt und sympathisch davon überzeugt, dass Antakya es mindestens wert sei, einen Tag lang angeschaut zu werden. So bleiben wir und bereuen es wirklich nicht, denn Antakya ist in der Tat ein sehr hübsches Städtchen, mit riesigem Basarviertel und viel interessantem Leben darin und Hussanmettin versteht es, sich viel Zeit für uns zu nehmen, obwohl er eigentlich in einem Büro arbeiten müsste. In seiner sehr ausgedehnten Mittagspause fahren wir gemeinsam auf ein hohes Bergplateau, von wo aus wir einen schönen Blick auf die Stadt und das gesamte fruchtbare Tal haben. Am Abend lernen wir den Club der nobleren Herren von Antakya kennen, wo man Karten spielt und sich sehr ereifert, weil der Einsatz sehr hoch ist. Mir wird ein bisschen langweilig, obgleich die Herren sich köstlich zu amüsieren scheinen.

Zähneputzen muss sein
Sie lieben ihren Club und das Spiel, so scheint es, als Ausgleich zu dem wohl sehr anstrengenden Familienleben in der Großfamilie. In Hussanmettins Familie wird morgen eine Hochzeit gefeiert, erzählt er uns. Aus diesem Grund hat er nicht die Absicht, heute früh nach Hause zu gehen. Dort würde alles in heller Aufregung sein und da bliebe er lieber im Club.
Hussanmettin hat einmal seinen Urlaub in Deutschland verbracht und schwärmt von dem freien Leben dort. Gut hat ihm gefallen, dass Männer und Frauen sich Arm in Arm in der Öffentlichkeit zeigen konnten. Hier in Antakya aber passt er sich den Vorstellungen seines Landes und seiner Religion an, versteht sich. Auf seinen Rat hin sehen wir uns das kleine Museum der Stadt an und haben viel Freude daran, weil unser Freund ganz unerwartet hier auftaucht, um uns genau über die Kunstschätze seiner Stadt aufzuklären. Auf seinen Wink hin, besichtigen wir auch noch die angeblich älteste christliche Kirche der Welt, eine Felsenhöhle hoch oben am Berg, in der sich bald nach dem Tode Jesus einige seiner Jünger mit ihren Anhängern getroffen haben sollen, um seine Lehre weiter zu verbreiten. Die Kreuzritter sollen dann 1000 Jahre später die jetzige Vorhalle angebaut haben und dem ganzen Bauwerk eine kirchenähnliche Fassade gegeben haben. Am Abend des sehr schönen Tages erfolgt ein etwas beklemmender Abschied von unserem Freund, da wir uns höchstwahrscheinlich nicht mehr wiedersehen werden, auch wenn wir unsere Adressen austauschen. Eine Idee kommt uns noch am nächsten Morgen. Wir machen zur Erinnerung noch ein Foto mit unserer Polaroid Kamera, das wir unserem netten Fremdenführer sofort überreichen können und das ihn ganz offensichtlich etwas über den Abschied tröstet.
Erste christliche Kirche in Antakya
Exkurs über die Türkei
Seit ihrer Gründung 1923 ist die Türkei laizistisch und kemalistisch geprägt. Kemal Atatürk leitete die Modernisierung der Türkei nach dem Vorbild europäischer Nationalstaaten ein.
Die Bevölkerung setzt sich aus 77 % Türken und ca. 16 % Kurden zusammen, der Rest sind verschiedene andere Nationalitäten. Sie ist zu 99 % muslimisch, 80 % Sunniten und ca. 20 % Alewiten. In den letzten Jahren, insbesondere unter Erdogan, haben konservative religiöse Strömungen in der Bevölkerung stark zugenommen.
Heute hat sich die Zahl der Türken seit 1971 mehr als verdoppelt. 1970 zählten sie 35, 6 Millionen, 2014 gab es bereits 77,7 Millionen. Die Türkei ist geprägt von einem hohen Grad an Vermögensungleichheit. So verließen schon während der 1960er, 70er und 80er Jahre viele Türken als Arbeitsimmigranten das Land. Es war keine Seltenheit, dass wir von Türken, die in Deutschland gearbeitet hatten und gerade im Urlaub waren, auf Deutsch angesprochen wurden. 1971 griff die Armee in die Politik ein, auch 1980 gab es einen erneuten Militärputsch. Das Kriegsrecht wurde verhängt, das einherging mit Repressalien gegen die Kurden und linke Oppositionelle. 1982 legte die Militärregierung eine bis heute gültige Verfassung der Republik vor.
Ab Mitte der 80er Jahre bestimmte der Kurden-Konflikt die innenpolitische Debatte. Ab 1978 entstand die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mit Abdullah Öcalan an der Spitze. Sie nahm 1984 im Südosten den bewaffneten Kampf für ein unabhängiges sozialistisches Kurdistan auf. 1998 nahm der türkische Geheimdienst Öcalan in Kenia gefangen. Die PKK erklärte daraufhin einen Waffenstillstand, der bis 2004 hielt.
Unter Bülent Ecevit, 1999 - 2002, gab es umfassende Reformen, die Todesstrafe wurde abgeschafft, Folter wurde verboten. Die Reformen wurden unter der heute regierenden AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, unter Erdogan fortgesetzt. So wurde 2004 ein Gesetz beschlossen, das sogenannte „Ehrenmorde“ an Mädchen und Frauen wie vorsätzlichen Mord mit lebenslanger Haft ahndet. 2003 gab es einen ersten Anschlag von Al-Qaida in Istanbul mit 60 Opfern. Seit 2004 sind die Kämpfe zwischen den türkischen Streitkräften und der Untergrundorganisation PKK wieder aufgeflammt. Bis 2007 kamen 40000 Menschen ums Leben.
2005 erreichte die Türkei die Aufnahmeverhandlungen mit der EU. Die EU erklärte jedoch, dass unter der islamisch-konservativen AKP Regierung Erdogans keine Fortschritte im Hinblick auf die Gewährung der Grundrechte, wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, etc. zu bemerken seien. Die türkische Wirtschaft entwickelte in den letzten 10 Jahren hohe Wachstumsraten.
Seit 2014 ist Erdogan, der seine Partei erst 2001 gegründet hatte, Präsident der Türkei. Bereits 2002 errang die AKP einen überragenden Wahlsieg. 2007 erzielte sie die absolute Mehrheit und so setzte sich ihr Erfolg bis heute fort, obwohl Erdogan wie ein Despot regiert. 2013 ging er mit brutaler Gewalt gegen Proteste auf dem Taksim Platz vor, die sich gegen das Fällen von Bäumen für Bauvorhaben richteten. Kritiker werfen ihm vor, er wolle die Herrschaft des Islam in der Türkei durchsetzen. Er selbst versteht sich als Anhänger der Scharia. In seiner Regierungszeit legten immer mehr Frauen das Kopftuch an.
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