„Sind Sie noch da?“, flüsterte sie. „Bitte sagen Sie etwas!“
„Bist du allein?“, entgegnete eine atemlose Stimme. Philippines Herz machte einen Satz.
„Natürlich bin ich es.“
„Schwöre es beim Leben deiner Mutter!“
„Ich schwöre es beim Leben meines Pferdes.“
Ein amüsiertes Lachen antwortete ihr. Und plötzlich tauchte ein dunkler Schopf hinter dem Sofa hervor.
„Das ist so ganz ein kindisches Geplapper. Was gilt schon der Schwur auf das Leben eines Pferdes?“ Nachdem er argwöhnisch um sich geblickt hatte, traute er sich ganz hervor und näherte sich mit dem Ausruf: „Er gilt nichts!“
„Sie täuschen sich, mein Herr! Ihr Zutrauen ist der beste Beweis. Sie wagten sich aus ihrem Versteck.“
Ein Blitz des Erstaunens flog über das Gesicht des Jünglings.
„Oho, du bist nicht dumm! Rasch, geh zum Eingang. Ich sterbe vor Hunger.“
Philippine drückte Vraem vorsichtig in die Flanken und schon in wenigen Sekunden stand sie vor dem Eingang, wo sie der Herr ungeduldig erwartete.
„Was ist los? Warum steigst du nicht ab und schaffst den Proviant ins Haus?“
Stockend bat das Mädchen, er möge den Vorrat selbst holen, worauf der freudige Ausdruck im Gesicht des Mannes erstarb. Für wen sie sich halte, schäumte er. Ob sie zum gemeinen Pöbel gehöre, der Hilfe mit Hoffart entgelten lassen wolle? Dann könne sie gehen. Trotz großen Hungers verzichte er auf jeglichen Beistand tückischer Helfer. Sagte es wild und schlug entschlossen die Tür zu.
Ratlos verharrte Philippine auf ihrem Pferd. Sie seufzte, hob den Blick zum Himmel und schüttelte schließlich den Kopf.
„Er hat ja Recht. Was erwarte ich von einem Menschen seines Standes? Dass er zu mir aufschaut? Mich vom Pferd hebt wie eine Prinzessin? Ach!“ Sie zuckte resignierend die Schultern. „Hör auf zu träumen, kleine Philippine!“ Ihr linker, gesunder Fuß tippte gegen Vraems linkes Vorderbein worauf das Pferd in die Knie ging, um seinem Reiter den Abstieg zu erleichtern.
Ohne Krücke, beladen mit den beiden Jutesäcken, tat sich Philippine schwer. Mühsam schleppte sie sich einige Meter, doch da riss er die Tür so unwirsch auf, dass man fürchtete, sie falle aus ihren Angeln und der junge Mann stürzte heraus.
„Warum sagst du nichts?“ Vorwurfsvoll wies er auf ihren Fuß. „Ich bin doch kein Sklavenhalter!“ Er entwendete ihr die Säcke und schulterte sie. Dann reichte er seinen Arm. „Stütze dich darauf.“
Das Mädchen ließ sich nicht zweimal bitten. Absichtlich verschwieg sie, dass sie stets ihre Krücke mit sich führte. Sie steckte in einem Halfter, dessen Gurt sich um den Pferdeleib schlang.
Als sie im Innern angekommen waren, lud er die Säcke ab und forderte Philippine auf, sich in einen der Sessel zu setzen. Trotz der verhangenen Scheiben war der Salon gemütlich und aufgeräumt. Ein behagliches Feuer brannte im Kamin. Philippine zögerte und setzte sich nicht gleich.
„Nie zuvor wäre mir die Idee gekommen, einem Kind des Volkes meinen Arm zu reichen! Ha!“ Er lachte über sich selbst. Es war ein verkrampftes Lachen. „Und da ich galant bin, habe ich dir gleich einen Sessel angeboten. Du kannst dich glücklich schätzen. So großherzig bin ich nicht oft.“ Sein Blick fiel auf ihren Fuß. „War es ein Unfall?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf und sagte es ihm.
„Oh, das tut mir leid! Andererseits bist du an nichts anderes gewöhnt, wohingegen der arme Hund, den der königliche Folterer zum hinkenden Krüppel macht, sich an bessere Zeiten erinnern kann.“
Bei seinen Worten war Philippine kalkweiß geworden. Sie wirkte so niedergeschmettert mit einem Mal, dass der junge Herr sie eilig zum Sessel schob und sie hineindrückte.
„Werde um Himmels Willen nicht in meiner Gegenwart ohnmächtig. Ich habe genug Verdruss.
Es würde das Fass zum Überlaufen bringen, rückte mir einer der streunenden Räuber auf den Leib, in der Annahme ich hätte seiner Tochter etwas angetan.“ Hastig sprang er zum Fenster und rückte den zerschlissenen Stoff zurecht, der einst als Vorhang diente und den er zur Seite geschoben hatte, um Philippines Ankunft zu beobachten. „Hin und wieder tauchen diese zerlumpten Gestalten hier auf. Das gefällt mir nicht.“
„Mein Vater ist kein Räuber. Im Übrigen brauchen Sie sich nicht vor Räubern zu fürchten, Herr! Sie halten sich hier nicht auf, weil sie nichts zu essen finden und nie ein Reisender durchkommt.“
„Aber ich habe welche gesehen!“, rief er aufgebracht. „Sie zogen auf dem schmalen Weg entlang, den du zu Pferde kommst. Wenn sie hier einbrechen, bin ich ihnen ausgeliefert.“ Zitternd wies er auf den Pfad unweit des Hauses. Aus großen Augen sah das Mädchen den jungen Mann an. Betroffen verfolgte sie seine Gesten, die wilden Schritte, mit denen er von Fenster zu Fenster eilte und überprüfte, ob man von außen hereinsehen konnte. Nervös wandte er sich um und blickte Philippine flammend an: „Bin ich hier sicher? In diesem Wald, in dem es vielleicht von Räubern wimmelt, in diesem Haus? Und du? Wer bist du? Bist du vielleicht ein Spion?“ Mittlerweile war es dunkel geworden. Im Schein der lodernden Flammen des Kaminfeuers hatte das Gesicht des Mannes etwas Gespenstisches. Wie Kohlen glühten seine dunklen Augen. Fasziniert starrte das Mädchen ihn an. Er trat näher, beugte sich ein wenig zu ihm herunter.
„Antworte!“
„Ich ...!“
„Antworte! Keine langen Überlegungen!“
Drohend stand er vor dem Mädchen, das eingeschüchtert den Kopf einzog.
„Ich weiß nicht, was ein Spion ist!“, begann es langsam. „Aber ich schwöre Ihnen beim Leben meines Pferdes, mit keinem Menschen von Ihnen gesprochen zu haben, und es niemals zu tun, solange Sie es wünschen, mein Herr!“ Sie schlug die Augen nieder. Dadurch konnte sie nicht sehen, dass es nun er war, der sie erstaunt ansah. Allerdings spürte sie, wie er sich entspannte. Spürte seinen Atem, der ruhiger wurde und sie wie ein zartes Streicheln auf der Stirn streifte.
„Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin nervös, müde und ...!“
„Hungrig!“, ergänzte Philippine. „Lassen Sie mich die Nahrungsmittel auspacken!“ Sie wollte aufstehen, doch der junge Herr hinderte sie daran.
„Warte! Ich bringe sie her. Wir werden hier gemeinsam essen. So bin ich sicher, dass du mich nicht vergiften willst.“ Zwinkernd schob er einen zweiten Stuhl und den Tisch heran. Und kaum hatte Philippine um sich geschaut, war er wieder da, packte Speck, Butter, Eier und Brot aus. Nebenbei sagte er hektisch:
„Dein Pferd ist weg. Ich habe es nicht gesehen als ich durch den Vorhang spähte.“
„Vraem hat die Angewohnheit, auf der Lichtung zu grasen, während ich im Haus bin.“ Das Mädchen holte ein Messer aus der Schnalle an ihrem Gürtel und schnitt den Speck.
„Gib mir das Messer! Ich werde das Brot schneiden. Den dicken Laib kriegst du halbe Person nicht klein. Erzähle mehr von dir und deinem interessanten Pferd.“
„Nun, solange das Gras noch saftig ist und voller Kleeblätter und Löwenzahn, frisst Vraem recht vergnügt und vergisst die Welt um sich herum. Sie würde niemals fortgaloppieren.“
„Hmm!“, machte der junge Mann. „Und was ist mit dir? Würdest du am liebsten fortlaufen? Ich meine, vor deinem Elternhaus davonlaufen.“ Hungrig schob er sich Speck und Brot auf einmal in den Mund. Hastig schälte er das Ei und biss genussvoll hinein. Das Mädchen gewann den Eindruck, er habe seit Wochen nichts gegessen. Gebannt sah sie zu, wie er Speck und Eier vertilgte, das Brot regelrecht hinunterwürgte. Ganz in seinen Anblick vertieft vergaß sie völlig, selbst zu essen. Obwohl er eher wie ein Tier alles verschlang und nichts von der guten Kinderstube aufwies, die er als Kind aus adeligem Haus sicherlich hatte, fand das Mädchen ihn schön. Alles an ihm gefiel ihr. Die schmalen Hände, die hohe blasse Stirn, in die dunkle Locken fielen, die wachen Augen und dieser Mund, hinter dem alles Essbare verschwand. Sie hätte ihn den ganzen Abend, die ganze Nacht, ja ein ganzes Leben nur ansehen mögen. Ihr aufgerissener Blick irritierte den jungen Herrn.
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