Gespannt lauschten die Kinder den Erzählungen von Ben und klebten mit ihren Blicken an seinen Lippen. Das Ganze hörte sich unheimlich aufregend und spannend an. „Weiter, los erzähl weiter!“, forderte Kiki ihren Freund auf. Ihr Körper vibrierte vor Spannung und Aufregung. „In der Ferne konnte ich ein Dorf mit einem Hafen erkennen, doch es wirkte richtig alt. Anscheinend gibt es da keinen Strom, denn überall wurden am frühen Abend Fackeln angezündet. Ich würde nur allzu gerne wissen, in welchem Jahr ich dort war.“, stellte Ben für sich fest. Die Kinder setzten sich völlig erschöpft auf den Boden. Was hatten sie da nur für eine Entdeckung gemacht? Keiner sagte einen Ton und ließen alles erst einmal sacken. Ben konnte sich mittlerweile schon wieder auf dem Sofa hinsetzen und blickte umher. Timmy kaute nervös an seinen Fingernägeln, man konnte erkennen das er viel grübelte. Die Mädchen hatten sich mittlerweile Rücken an Rücken hingesetzt. Ihre Gesichter sprachen Bände. Ihre Fassungslosigkeit merkte man ihnen an. Wie sollte es jetzt nur weitergehen? Wie wollten sie weiter mit ihrer Entdeckung umgehen? Ihren Eltern konnten sie auf keinem Fall etwas darüber erzählen. Zum einen hätten sie ja schon eigentlich niemals den Turm betreten dürfen, zum anderen war es wohl auch völlig klar, dass sie dann das Zeitloch das letzte Mal gesehen hätten. Ihre Eltern hätten ihnen sicherlich verboten, je wieder in den Turm zu gehen. Nein, auch wenn es ihnen schwer fiel, über den Lichtstrudel durften sie außerhalb des Turmes auf keinen Fall sprechen. Soviel stand für alle fest. Ratlos und stumm starrten sie vor sich hin. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung. Zum einen war die Freude und Aufregung groß über das, was sie entdeckt hatten, zum anderen wussten sie aber auch nicht, was sie davon halten sollten. Sollte es wirklich einer von ihnen wagen, den Lichttunnel komplett zu durchqueren? Eine Frage, die sich nicht sehr leicht beantworten ließ.
Schnell entbrannte eine Diskussion darüber, ob überhaupt, und wenn, wer den Lichtstrudel durchqueren sollte. Ben erklärte, dass es bestimmt nicht einfach sei, drüben am anderen Ort sicher anzukommen. Er konnte sich daran erinnern, dass es beim anderen Turm bestimmt noch drei oder vier Meter steil hinab ging. Somit stand fest, dass sie erst ein langes Seil oder ähnliches brauchten, bevor sie überhaupt einen solchen Versuch wagen konnten. Kiki war sich nicht ganz sicher, ob sie nicht eigentlich noch andere, wichtigere oder größere, Probleme hatten. Am Turm herunter zu klettern war das Eine, aber was war mit dem Rückweg? Was, wenn man am Seil nicht zurück klettern konnte oder es reißen würde? Niemand sollte schließlich verletzt werden oder verloren gehen. Timmy war in der Zwischenzeit verschwunden, worüber Ben nicht sehr erfreut war: „Ach, dieser Hasenfuß. Jedes Mal, wenn es interessant wird, macht der sich in die Hose und verschwindet!“. Der Junge warf einen wütenden Blick zu seinen beiden Freundinnen, die nun ebenfalls grimmig dreinschauten. Doch sie waren zu unrecht wütend, denn einige Minuten später erschien Tim wieder auf der Bildfläche, und was soll man sagen, er hatte ein dickes Seil um die Schultern gewickelt. „Ich gehe zuerst!“, waren seine Worte: „Schließlich habe ich das Loch entdeckt. Jetzt will ich auch wissen, was dahinter ist.“ Die Freunde konnten es kaum glauben. Ausgerechnet Timmy wollte in das Loch steigen? Ihr Tim Petersen, der sonst als Erster verschwunden war, wenn es brenzlig wurde? Der Tim Petersen, der sich einmal nicht getraut hatte, gegen ein kleines Mädchen aus dem Dorf anzutreten, als dieses sich mit ihm prügeln wollte? Damals hatte er den ganzen Zuckerfabrikkindern Schande bereitet und nun wollte ER in das Loch steigen? Kiki, Vanessa und Ben standen fassungslos vor ihrem Freund, während dieser sich schon das Seil um die Hüften band. Schneller als sie überhaupt widersprechen konnten, rückte er sich das Sofa zurecht und machte sich bereit. „Ihr holt mich entweder in einer halben Stunde oder wenn ich drei Mal ziehe zurück!“, gab Timmy seinen Freunden zu verstehen. Die Drei nickten kurz. Sie hatten verstanden worum es ging. Tim zögerte nicht lange, zwei, drei Mal federte er auf dem Sofakissen hoch, um letztendlich mit einem gekonnten Hechtsprung im blauen Strudel zu verschwinden.
Das Seil wickelte sich langsam, auf dem Boden liegend, immer weiter ab. Erst im letzten Augenblick begriff Ben, dass sie es nirgends befestigt hatten. Mit einem gewagten Sprung stürzte er sich auf das drohende Ende des Seils und hielt es fest. Dabei schrie er so energisch, dass selbst die Mädchen aus ihrer Starre erwachten und ihm halfen. Es schien gerade noch rechtzeitig gewesen zu sein. Zumindest spürten sie ein enormes Gewicht, welches sie halten mussten. Dies konnte nur bedeuten, dass Tim noch auf der andere Seite am Seil hing. Langsam gaben sie mehr und mehr Leine nach, bis kein Zug mehr auf ihr lastete. Timmy musste den Boden erreicht haben. Vanni wirkte nervös und setzte sich auf das Sofa. War es die richtige Entscheidung ,die sie da getroffen hatten? Es ging nun wirklich alles ein wenig schnell, vielleicht hätten sie die ganze Sache doch besser überdenken sollen? Was, wenn Timmy etwas passieren würde oder er nie wieder nach Hause käme? Wie hätten sie dies seinen Eltern erklären sollen? Vanessa machte sich fürchterliche Sorgen und schwere Vorwürfe. Kiki hingegen blieb entspannt, obwohl sie das Seil keine Sekunde aus den Augen ließ. Immerhin hätte daran augenblicklich gezogen werden können. Dies war das vereinbarte Signal gewesen, dass Tim zurückkehren wollte, doch, ...es rührte sich nichts. Trotzdem blieb sie gelassen, denn sie wusste, bevor es gefährlich werden würde, wäre Tim der Erste gewesen, der davon gelaufen wäre oder sich versteckt hätte. Ihm konnte somit eigentlich nichts passieren, egal wo immer er sich auch aufhalten würde. Ben stand am Fenster und blickte unentwegt auf seine Uhr. Mittlerweile waren schon fünfzehn Minuten um. Kein Signal, nichts. „Wäre ich doch nur gegangen.“, dachte er sich die ganze Zeit und kaute an seinen Fingernägeln herum, was eigentlich Timmys Art war, um seine Nervosität zu bekämpfen. Doch er war sehr angespannt. Tim war sein bester Freund und sie hatten ihre ganze Kindheit miteinander verbracht. Er konnte sich nicht ausmalen, wie es wohl ohne seinen Freund wäre. Sorgenvoll runzelte er die Stirn und stierte weiter auf seine Uhr. Die Sekunden vergingen wie Stunden. Ab und an lauschte er daran, um sicher zu gehen, dass sie nicht kaputt war. Weitere, nicht enden wollende, quälende Minuten lagen noch vor den Kindern. Im Turmzimmer herrschte eine bedrückende Stille und niemand wollte etwas sagen. Vanni war mittlerweile vom Sofa aufgestanden und ging lautlos auf und ab. Sie konnte das Warten nicht mehr ertragen. Kiki beobachtet sie dabei, verlor jedoch nie das Seil aus ihren Augen. Doch es rührte sich nichts. Nicht das kleinste Zucken war zu erahnen. Ben schaute weiter auf seine Uhr. Nach unendlich langer Zeit zählte er herunter: „Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, ...null.“ Die halbe Stunde war abgelaufen und er schaute gebannt auf das Seil, welches regungslos auf dem Boden lag. „Was machen wir denn jetzt?“, warf Vanessa verängstigt in den Raum. Ihr Gesicht spiegelte alle Sorgen wieder, die sie hatten. Kiki zuckte mit den Schultern: „Warten wir, was sollen wir sonst machen?“ Doch das konnte und wollte Ben auf keinen Fall tun. Er wollte seinen Freund nicht im Stich lassen und er ging auf das Seil zu. Mit beiden Händen packte er es an, spuckte in die Hände und begann damit, es vorsichtig zu ziehen. Doch er konnte es viel zu leicht zurück holen und somit war ihm sofort klar, dass Timmy niemals am anderen Ende daran hängen konnte. Verzweifelt ließ er die Leine wieder los. Augenblicklich konnten sie wirklich nichts anders tun als abzuwarten. Es verging eine weitere sorgenvolle halbe Stunde. Noch immer gab es kein Zeichen von Tim.
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