Wie einfallsreich, dachte sie genervt.
Ihr langes, braunes Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern und sie entschied sich, es heute ausnahmsweise einmal offen zu tragen. Es würde sie wahrscheinlich sowieso niemand beachten. Das Einzige, was sie an sich wirklich schön fand, waren ihre großen, mandelförmigen, grünen Augen. Da sie aber eh niemanden nah genug an sich heranließ, um diese zu bemerken, würde sie damit auch keine Punkte machen. Ansonsten fand sie sich einfach nur durchschnittlich. Natürlich waren Anne und Marie da vollkommen anderer Meinung. Aber Celina konnte keinen der Vorzüge erkennen, die Andere angeblich in ihr sahen.
Na klar, jetzt zerfließe ich auch noch vor Selbstmitleid. Genau der richtige Zeitpunkt, schallt sie sich und verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse.
Mit einem letzten missbilligenden Blick auf den Spiegel verließ sie ihr Zimmer.
Gerade einmal zehn Minuten nach dem unangenehmen Weckruf ging sie aus dem Haus und stieg in ihren roten Honda Civic.
Sie warf ihren Rucksack achtlos auf den Beifahrersitz, startete den Motor und fuhr los.
Auf den Straßen war kaum Verkehr. Das war aber nicht weiter verwunderlich, da Celina in einer Kleinstadt lebte.
Fort Kain lag im Bundesstaat Michigan und hatte gerade einmal sagenhafte fünftausend Einwohner. In diesem Ort gab es wirklich nicht viel zu sehen, aber wenigstens befand sich in der Nähe eine Universität.
An dieser studierte die neunzehnjährige Celina seit nunmehr fast zwei Jahren Biologie. Zwar hatte sie sich nach dem Schulabschluss für mehrere Universitäten beworben, aber am Ende war ihre Wahl doch auf die ortsansässige Greenwald University am Lake Michigan gefallen.
Ihre Tante Marie war entsetzt gewesen!
Sie hatte sich so gefreut, als Zusagen von mehreren der sogenannten „Eliteuniversitäten“ gekommen waren.
Aber Celina hatte einfach aus dem Bauch heraus anders entschieden.
Sie war durchaus zufrieden damit, weiterhin in Fort Kain zu leben, da sie kein Interesse daran hatte, in eine dieser total versnobten Großstädte zu leben. Sie liebte es, einfach aus dem Haus zu gehen und die Natur um sich herum zu haben. Wenn man Glück hatte, begegnete einem unterwegs manchmal nicht eine Menschenseele und man konnte einfach nur die Ruhe genießen.
Außerdem versetzte es die junge Studentin in die durchaus komfortable Lage, weiterhin zu Hause wohnen bleiben zu können und somit musste sie sich auch keine Sorgen machen, dass ihre egozentrische, künstlerisch so talentierte, verrückte Tante vereinsamen würde.
Marie war immerhin die Letzte aus Celinas Familie, die ihr geblieben war.
Celinas Vater starb kurz nach ihrer Geburt bei einem Autounfall mit Fahrerflucht. Der Täter konnte nie gefasst werden und als ob das alleine nicht schon schlimm genug wäre, hatte ihre Mutter vor sechzehn Jahren entschieden, dass es ganz toll wäre, sich auch noch aus dem Staub zu machen.
Eines Nachts hatte sie vor Tante Maries Tür gestanden und ihr kleines Mädchen in deren Obhut gegeben, bevor sie einfach spurlos verschwand.
In einer Kleinstadt wie dieser hatte es für einen Riesenskandal gesorgt.
Marie hatte Celina damals, trotz ihres jungen Alters, mit offenen Armen empfangen und ihr die schönste Kindheit gegeben, die man sich nur vorstellen konnte. Sie wurde geliebt, hatte alles was sie brauchte und konnte sich eigentlich nicht beklagen.
Das war wahrscheinlich auch der einzige Grund, der sie daran hinderte ihre Mutter abgrundtief zu hassen. Obwohl sie natürlich während ihrer Pubertät auch eine solche Hass-Phase hinter sich gebracht hatte.
Zu diesem Zeitpunkt war es ihr so schwergefallen, andere Mütter mit ihren Töchtern zu sehen.
Sie unternahmen Frauendinge, redeten über Jungs und verstanden sich einfach. Natürlich stritten sie sich auch, aber nicht einmal das hatte Celina von ihrer Mutter gehabt. Es hatte einfach nur wehgetan und sie war so unendlich wütend über ihren Verrat gewesen. Erst als Celina reif genug war, erkannte sie, dass ihre Tante genau diesen Part einer Mutter zu hundert Prozent zu erfüllen versuchte und sie sehr darunter litt, dass ihre kleine Nichte das anscheinend nicht so sah.
Von Schuldgefühlen getrieben, beschloss sie mit der Vergangenheit abzuschließen.
Sie entschied sich, nie wieder ein Wort darüber zu verlieren und seitdem ging es ihr auch wieder gut.
Schluss. Aus. Ende der Geschichte!
Ein weiterer Grund der Celina zum Bleiben bewegte, war ihre beste Freundin Anne.
Eigentlich fiel es ihr im Allgemeinen schwer Freundschaften zu schließen. Es lag auf gar keinen Fall daran, dass sie irgendwie abstoßend auf die Leute wirkte, aber Celina kapselte sich gerne von den Anderen ab und hing ihren Gedanken nach. Nur Anne hatte es geschafft, ihren inneren Schutzwall zu durchbrechen und deshalb genoss sie seit frühster Kindheit ihr uneingeschränktes Vertrauen.
Anne war die einzige Person, der ihre soziale Inkompetenz einfach nichts auszumachen schien und so sollte es doch auch sein. Oder?
Und da stand sie auch schon. Mit hochrotem Kopf wartend und nervös auf die Uhr starrend.
Reumütig schlich Celina auf Anne zu und flüsterte ein leises Sorry in ihre Richtung. Sie rechnete schon mit einem ellenlangen Vortrag über ihre neuerdings immer wiederkehrende, für sie ach so untypische Unpünktlichkeit. Aber es kam nichts! Während die Beiden schweigend nebeneinander herliefen, merkte Celina aber sofort, dass das Donnerwetter noch nicht ganz überstanden war und Anne angestrengt nachdachte. Ihre Freundin hatte die nette Eigenart, sich beim Grübeln die ganze Zeit auf der Unterlippe herumzukauen. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie etwas mitzuteilen hatte und nur nicht wusste, wie sie anfangen sollte. Noch ein Grund mehr sie zu mögen: sie verstellte sich nie und man wusste immer, woran man bei ihr war. Als Celina das Warten zu lang wurde, unterbrach sie ihre Gedanken: «Nun sag schon. Haben wir ein Problem?» Anne blieb stehen und musterte sie eindringlich. Celina sah ihren Blick und wusste sofort, dass ihr nicht gefallen würde, was sie zu sagen hatte. Ihre normale Reaktion darauf folgte auf den Fuß. Sie blockte ab und sah Anne durchdringend an.
Wag es ja nicht, dachte sie und hasste sich im gleichen Augenblick dafür, dass sie manchmal so anstrengend sein konnte.
Es würde ihr ganz recht geschehen, wenn Anne sie jetzt in aller Öffentlichkeit zur Schnecke machen würde und man merkte auch, dass diese einen ganz kleinen Augenblick tatsächlich darüber nachdachte. Doch dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf und ihr Blick wurde merklich weicher. Sie fragte mit sanfter Stimme:
«Hattest du schon wieder diesen merkwürdigen Traum?»
Celina wusste, dass sie die Antwort bereits kannte, aber sie nickte trotzdem zur Bestätigung. Ihr wurde schon schlecht, wenn sie nur daran dachte:
Nacht für Nacht derselbe nervenaufreibende Alptraum…
Celina lief in absoluter Finsternis und versuchte irgendeinen Orientierungspunkt zu finden, aber ihr kam nichts bekannt vor und sie wurde langsam müde.
Nach gefühlten Stunden des ziellosen Umherirrens in der Dunkelheit kam dann auch noch dieser schreckliche Nebel dazu und plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Die Müdigkeit wurde sofort von Angst abgelöst, als ihr klar wurde, dass sie besser um ihr Leben rennen sollte. Erst nach einer Weile lichtete sich der Nebel wieder. Celina wusste, dass sie unter gar keinen Umständen stehen bleiben sollte, aber sie war mittlerweile so erschöpft, dass es ihr kaum möglich war, auch nur einen weiteren Schritt zu machen. Obwohl sie genau spürte, dass sie immer noch verfolgt wurde, war sie gezwungen, stehen zu bleiben. Als sie sich langsam umdrehte und schon mit dem Schlimmsten rechnete, war das, was ihre Panik ausgelöst hatte, schon verschwunden. Sie versuchte ruhig durchzuatmen, aber jeder Atemzug versetzte ihr einen Stich und sie schaffte es einfach nicht, ihre Nerven wieder zu beruhigen.
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