Als ob in mir November wär
Ein Requiem in Prosa
Helmut Höfling
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Copyright: © 2014 Helmut Höfling
ISBN 978-3-8442-6656-6
Trauer ist der Gipfel der Liebe.
Dein Platz ist leer.
Mein Herz ist schwer.
Mir ist,
seit du gegangen bist,
als ob in mir November wär.
Die Bank war leer.
Schon von weitem sah er es durch die Sträucher mit ihrem welken Laub.
Die Bank war leer.
Wie lange war es bereits her, dass sie dort gesessen hatte, Seite an Seite mit ihm.
Eine Woche…?
Einen Monat…?
Ein Jahr…? Oder zwei… oder drei…?
Die Bank war leer.
Und sie würde auch leer bleiben. Heute… morgen… für immer…
Weißt du noch, wie ich mit dir dort gesessen habe? Es waren die letzten warmen Tage im Oktober. Früher waren wir oft an dem Gelände vorbeigekommen, das einmal ein Park für den Landgrafen gewesen war. Mit seinem Tod war auch dieses Kleinod der Gartenbaukunst gestorben. Tod… sterben… Ich hatte es nur als verwildertes Grundstück kennengelernt, von Park keine Spur mehr, bis es dann in unseren Tagen als Kleiner Tannenwald zu neuem Leben erweckt wurde, sozusagen auferstanden von den Toten...
Auferstehung… Es gibt so viele, die daran glauben… an die Auferstehung von uns Menschen. Wenn es doch so wäre! Ich kann es nicht… mir fehlt der Glaube.
Die Bank ist leer.
Mein Herz ist schwer.
Mir ist, seit du gegangen bist, als ob in mir November wär.
Weißt du, früher sind wir zu Fuß dorthin gegangen, ein kleiner Spaziergang rund um „die vier Ecken“. Aber seit deiner schweren Erkrankung habe ich dich dorthin gefahren. Am Parkeingang habe ich dich in den Arm genommen und zur nächsten Bank geleitet, hundert Meter oder zwei… Und dann hast du jedes Mal gesagt: „Lass uns noch ein Stückchen weitergehen… zur Bank dort hinten, am Teich, in der Sonne…“ Du hast geschnauft, bei jedem Schritt, aber du hast dich nicht unterkriegen lassen, du hast gekämpft. Und ich…?
Weißt du noch, was ich immer zu dir gesagt habe, wenn wir nachher wieder zu Hause waren und du von den paar Schritten vom Auto ins Haus so erschöpft warst, dass du gleich aufs Sofa gesunken bist, noch im Mantel…? „Du hast mir heute wieder eine große Freude gemacht!“, habe ich dann gesagt. Ja, es war wirklich so! Noch ein paar Jährchen zuvor sind wir durch die Welt gereist, es war wunderschön! Aber diese paar Schritte zur Bank und wieder zurück – diese “kleine Reise“ war die schönste von allen!
Jetzt ist auch diese Reise zu Ende, die letzte „kleine Reise“, seit du auf die letzte „große Reise“ gegangen bist. Ohne mich. Warum eigentlich? Ich habe bei dir gelegen, bevor du aufgebrochen bist, habe dich gehalten, in der Hoffnung, dich halten zu können, dich nicht zu verlieren. Es war eine trügerische Hoffnung. Du lagst in meinen Armen, Seite an Seite, und warst doch auf einmal nicht mehr da. Wer soll das begreifen…! Was hast du denn falsch gemacht, dass du nicht mehr sein kannst? Nicht mehr die sein kannst, die du dein Leben lang gewesen bist? Nicht mehr dort sein kannst, wo du hingehörst? Wo du all die Jahre warst… bei mir… in mir…! Gottes Wege sind unergründlich , sagen die einen und gestehen sich damit ein, dass sie auch nichts wissen. Ein von Menschen erdachter Trost. Ein schwacher Trost, der wenigstens ihnen hilft, nicht zu verzweifeln. Aber kein Trost für mich.
Die Bank ist leer.
Es ist jetzt Mai. Und doch November. Für mich, nur für mich. November in mir.
Wie oft haben wir eigentlich dort gesessen? Nicht oft, ein Dutzend Mal vielleicht oder auch zwei. Im Frühjahr hatten wir damit angefangen. Im Sommer waren wir zu Hause im Garten geblieben. Und dann im Herbst wolltest du wieder in den Park auf “deine“ Bank.
Erinnerst du dich noch an die brütende Ente hoch im Baum? Ja, es war wirklich eine Entenmutter in der weiten Höhle des Baumstamms. Ein normaler Vogel war es nicht mit dem breiten Entenschnabel. Und zu Hause haben wir dann im Lexikon gelesen, dass Mandarinenten, die ursprünglich aus Ostasien stammen. hoch oben in Baumhöhlen nisten. Jedes Mal, wenn wir zu unserer Bank kamen, haben wir dorthin geschaut, ob die Jungen vielleicht schon geschlüpft seien. Aber den Tag des neuen Lebens, an dem dein Leben schon begonnen hatte, dich zu verlassen, haben wir leider nicht mehr erlebt.
Ein Leben erleben… Erlebt man auch den Tod…? Ja, so sagt man, aber eigentlich klingt es sonderbar: den Tod erleben… Ist doch ein Widerspruch.
Ach, da kommt er schon wieder. Ausgerechnet in diesem Augenblick – der junge Mann, der hinter unserer Bank aus dem Seitenweg hervorschießt, lautlos, und dann an uns vorbeihastet im Dauerlauf, am See entlang, um nach der Biegung im Wald zu verschwinden. Jeden Nachmittag war es so, erst jeweils nur einmal, in letzter Zeit aber immer zweimal. Was soll das bedeuten? Bedeutet es überhaupt etwas…? Ich meine, er laufe jedes Mal dichter an uns vorbei. Oder ist es nur Einbildung? Wird er demnächst dreimal seine Runden drehen? Vielleicht schon heute? Wer ist er überhaupt? Wirklich ein junger Mann…? Ein alter bestimmt nicht, so locker, wie er läuft. Aber man weiß es nicht genau, sein Kopf ist stets von der schwarzen Kapuze an seinem Pulli bedeckt, so dass selbst sein Gesicht von der Seite nicht zu erkennen ist. Und wenn er an uns vorbeihastet, ist es schon zu spät, ihm ins Gesicht zu schauen. Überhaupt schwarz… Nicht nur die Kapuze ist schwarz. Alles an ihm ist schwarz wie bei den Krähen auf dem Friedhof.
Wieso komme ich plötzlich auf den Friedhof…?
Dein Platz ist leer.
Mein Herz ist schwer.
Mir ist, seit du gegangen bist, als ob in mir November wär.
Sicherlich hängt es damit zusammen. Du musst rausgehen, sagen die einen, unter Menschen. Was verloren ist, bleibt verloren. Man kann die Vergangenheit nicht zurückholen. Nichts. Gar nichts.
Ach ja, die Leute haben gut reden. So was sagt sich so leicht dahin, wenn man in einer anderen Haut steckt. Mein Verstand sagt mir das gleiche, aber mein Gefühl… Man kann mit einem Menschen zusammenleben, weil es verschiedene Vorteile bringt, so sagt es der Verstand. Und es lässt sich auch verstandesgemäß begründen. Man kann aber auch mit einem Menschen zusammenleben, selbst wenn es verschiedene Nachteile mit sich bringen sollte. Warum? Weil das Gefühl stärker ist als der Verstand. Weil dieses Gefühl Glück bedeutet, und dieses Glücksgefühl, das zwei Menschen verbindet, währt über den Tod hinaus. Je stärker das Glücksgefühl war, desto größer ist der Schmerz für den, der übrig geblieben ist. So ist es, nicht zu ändern, nie mehr, so sagt mir der Verstand, aber gerade darum ist der Schmerz so grausam. Wer kann das begreifen? Ein anderer bestimmt nicht, auch wenn er das Gegenteil beteuert.
Ich weiß, du verstehst mich. Bei uns war es Verstand und Gefühl: zwei Menschen, die ihre Partner verloren hatten und sich nun gegenseitig zu helfen versuchten. In einem Alter, in dem viele nicht mehr die Kraft aufbringen, noch einmal von vorne anzufangen.
Aber jetzt…?
Dein Platz ist leer.
Die Kraft dahin… Die Zukunft… Vorbei, alles vorbei. Leer. Alles leer.
Mir ist, seit du gegangen bist, als ob in mir November wär.
Wie lange soll das so weitergehen? Kann ich das überhaupt noch ertragen? Andere müssen es auch. Ja, ich weiß. Ein Los, das jeden trifft. Aber wo bleibt da Gott, der gütige Vater, der uns erst in diese irdische Welt geworfen hat, um uns dann in sein himmlisches Reich zu rufen? Woher wissen das überhaupt die Leute, die das behaupten? Weil sie es wissen wollen, obwohl sie es gar nicht wissen, nicht wissen können. Warum hat er uns eigentlich erst in dieses Jammertal geschickt? Hätte er uns nicht gleich im Paradies leben lassen können? Was sich die Menschen nicht alles ausdenken, um sich über die Ungereimtheit des Lebens, die Ungerechtigkeiten, den Schmerz hinwegzutrösten. Wo bleibt da die Logik? Nebelkerzen über Nebelkerzen, die Priester und Menschen werfen, um die Wirklichkeit nicht sehen zu müssen.
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