Erziehungsspiele auf dem zweiten Bildungsweg
Tobias hatte es geschafft. Er hatte mit Helene eine schöne Frau, drei gesunde Kinder, ein eigenes Haus und eine Firma. Nun, genau genommen gehörte ihm die Firma nicht: Eigentümer war eine Erbengemeinschaft und er war als Geschäftsführer eingesetzt. Vom Bilanzbuchhalter über den Finanzchef zum eigentlichen Leiter des Unternehmens hatte er sich hochgedient, wobei es sicherlich hilfreich war, dass sein Großonkel die Firma einst gegründet hatte. Aber sein Job war sicher, und sein Gehalt lies keine Wünsche offen. Und so würde es bleiben, solange es der Firma gut ging. Dafür hielt man sich fest an die Vorgaben des Großonkels, dessen Motto immer war: Qualität ist Trumpf! Damit hatte man sich über die Region hinaus einen Namen gemacht und war beständig expandiert und zwar immer nur mit Eigenmitteln, man hat sich nie von Banken abhängig gemacht.
Dabei war es nicht so, dass Tobias sich nicht auch für Neuerungen interessierte, aber man blieb immer bodenständig und vertraute im Zweifel auf den eigenen Menschenverstand. Tobias war auch klug genug, seiner alten Sekretärin, die er vom Vorgänger übernommen hatte, und die das Geschäft wie keine andere kannte, zu vertrauen. Sie hat ihm manche Fehlentscheidung erspart. Beide waren inzwischen ein eingespieltes Team. Sie brauchten einander in der Firma und sie vertrauten einander. Aber dennoch blieben sie immer förmlich distanziert und Siezten sich auch noch nach fünf Jahren Zusammenarbeit. Aber solange der Erfolg ihnen recht gab, störte es Tobias auch nicht, dass man hinter seinem Rücken manchmal tuschelte, sie – also die Sekretärin – leite in Wahrheit die Firma. Sie war älter und ja, sie war wohl auch klüger. Auch Tobias war klug. So hatte er sie in ihrer Position belassen und sich keine neue, junger Sekretärin gesucht, wie manch anderer es wohl getan hätte.
Und Abwechslung, oder wie man das nennen mag, brauchte Tobias nicht. Denn seine Frau Helene war ihm eine gute Ehefrau. Für Helene war ebenfalls alles bestens. Sie war Mutter dreier wohlgeratener Kinder, eine gute Hausfrau und stets darauf bedacht, ihren Mann zufrieden zu stellen. Sie war schon zu Schulzeiten in ihn verliebt gewesen. Wie es oft so ist, war es eher so, dass sie sich ihn ausgesucht hatte, als er sich sie. Sie hatte ihn aber stets im Glauben gelassen, es sei andersherum gewesen. Es passte einfach zu gut, denn sie mochte ihn wirklich und obendrein kam er aus wohlhabenderen Kreisen als ihre eigene Familie. So lebten sie glücklich und zufrieden und es fehlte an nichts.
So gut könnte es weitergehen, dachten sowohl Helene als auch Tobias. Nur ein kleiner Dissens bestand und gab regelmäßig Anlass für kleinere Streitigkeiten innerhalb der Familie: Beide Eltern hatten sehr unterschiedliche Auffassungen von der richtigen Erziehung der Kinder. Helene war sehr streng und forderte Disziplin von ihren Kindern. Musikunterricht, Reiten, Fremdsprachen – das alles ermöglichte sie ihren Kindern, verlangte aber immer Höchstleistungen. Und wenn die mal ausblieb, setzte es auch gern mal Schläge. Tobias ging manches Mal dazwischen, wenn er das mitbekam, aber er war ja meistens in der Firma. Helene hielt Tobias für zu weich und nachgiebig, so wie er sie für viel zu streng hielt. Er meinte hingegen, die Kinder brauchen Freiheit; und dazu gehöre auch die Freiheit, Fehler zu machen.
Von dieser nicht ganz unwesentlichen Meinungsverschiedenheit abgesehen, verstanden sie sich prächtig und hatten sich ihr Leben bestens eingerichtet. Auch ihr Liebesleben funktionierte auch nach 17 Jahren Ehe bestens. Helene wünschte sich zwar manchmal etwas mehr Aufmerksamkeit und auch häufigeren Sex, hatte aber Verständnis, wenn ihr Mann nach einem 10-Stunden-Tag nicht immer wollte (und sie hatte für sich ein kleines Arrangement gefunden), während er sich manchmal wünschte, seine Frau wäre experimentierfreudiger. Beide waren dennoch ein eingespieltes Team und hatten ihre Rituale, die zwar etwas langweilig erscheinen mögen, aber letztlich beiden das Gefühl gaben, ein ausgefülltes Geschlechtsleben zu haben.
Ja, so schön könnte es weitergehen, dachten beide über ihr Leben im Wohlstand. Aber Veränderungen kommen doch immer wieder vor, manchmal in Form von Schicksalsschlägen, ja, und manchmal wird alles sogar noch besser. Oder, wie man so sagt: der Teufel scheißt gern auf den größten Haufen. Und genau so erging es auch Ihnen eines Tages.
Der älteste Bruder von Tobias’ Vater, Onkel Adalbert (eigentlich Adolf – er hat sich aber aus Gründen umbenannt, auf die ich hier wohl nicht näher einzugehen brauche), der in jungen Jahren nach Amerika ausgewandert war, ist „überraschend und unerwartet“ – wie es im Kondolenzschreiben tatsächlich hieß – im Alter von 82 Jahren verstorben. Nun war der Brief des Nachlassverwalters bei den Schroffensteins eingetroffen, die von dem Ableben ihres Verwandten noch keinerlei Nachricht hatten. Helene war aus allen Wolken gefallen und dachte erst an einen bösen Scherz, rief aber dann ihren Mann an, der eine Stunde später in der Doppelhaushälfte der Familie eintraf. Helene hatte den Brief bereits geöffnet und gelesen, obwohl deutlich „persönlich, vertraulich“ ( private and confidential ) auf dem Brief vermerkt war.
Adalbert, den Tobias nach seiner Kindheit überhaupt nur noch vier oder fünf Mal getroffen hatte, hatte ausgerechnet ihn zum alleinigen Erben eingesetzt. Adalbert, ein komischer Kauz und Sonderling der Familie, der nie geheiratet hatte oder sonst in einer Beziehung lebte (soweit man wußte), war Zeit seines Lebens Junggeselle geblieben und kinderlos. Aber warum er keinen der zahlreichen anderen Cousins oder Cousinen der Familie bedacht hatte, blieb etwas rätselhaft. Im Testament, das als Kopie dem Brief beilag, stand als Begründung nur ganz lapidar: „Tobias war der netteste meiner Neffen. Er war der einzige Junge, der mir aufmerksam zuhörte, wenn ich Käptn Blaubärs Geschichten erzählte, und er war der einzige, der mir weder an meinem Bart gezupft hat, noch jemals danach gefragt hat, warum ich einen Bart trage.“
„Ist das wahr? Hast Du nie danach gefragt?“ fragte Helene, und Tobias antwortete: „Ich weiß es nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch sehr gut, wie mit seiner Pfeife im Mund und mit seiner Mütze auf dem Kopf uns Kindern vorgelesen hatte. Er war für mich Käptn Blaubär.“
Nun, Käptn Blaubär hatte im Weiteren verfügt, dass sein Immobilienbesitz veräußert, Hausrat, Aktien und jeglicher Besitz zu Geld gemacht werden sollte, um dann als einzelne Geldüberweisung an seinen Erben zu gehen. Er selbst hatte schon erfolgreich in diese Richtung gearbeitet, denn sein Barvermögen, verteilt auf drei Konten belief sich bereits auf über 14 Millionen Kanadischer Dollar. Der Nachlassverwalter gab an, dass grob geschätzt 27,5 Mio. CAD an Vermögen zusammen kommen dürften, das wären über 20 Millionen Euro.
Er hatte einen längeren Brief dazu geschrieben, worin er anregte, nicht schlagartig den ganzen Besitz zu veräußern, wozu er sich ohnehin außer Stande sah, sondern – besonders für den Immobilienverkauf – wenigstens ein halbes, besser ein Jahr einzuplanen. Vorausgesetzt natürlich, Tobias Schroffenstein würde das Erbe annehmen. Daran aber konnte kein Zweifel bestehen. Wenn sich das Glück einem schon so aufdrängt…
Tobias und Helene beschlossen, niemanden von dem neuen Vermögen zu erzählen. Das würde nur böses Blut unter den Verwandten geben und Neider auf den Plan rufen. Auch gegenüber den Kindern, die im schwierigen Alter von 12 bis 17 waren, sollte die Geschichte zunächst geheim gehalten werden. Der Tod des Onkels wurde bekannt gegeben, auch das man überraschend „etwas“ geerbt habe, das schon, aber nicht, wie viel es wirklich war. Das gelang auch ganz gut, denn offenbar wußte niemand in der Familie, wie viel Geld der alte Onkel tatsächlich besessen hatte.
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