Die Gestalten waren verschwunden und Herakles wieder allein. Er war entschlossen, den Weg der Tugend zu gehen. Auch fand er bald Gelegenheit, etwas Gutes zu tun. Griechenland war damals noch voll von Wäldern und Sümpfen, von grimmigen Löwen, wütenden Ebern und andern Ungeheuern durchstreift. Das Land von diesen Untieren zu säubern und von den Räubern zu befreien, die dem Wanderer in den Einöden auflauerten, war der alten Helden größtes Verdienst. Auch dem Herakles war dieser Beruf angewiesen. Zu den Seinigen zurückgekehrt, hörte er, daß auf dem Berge Kithairon, an dessen Fuße die Herden des Königs Amphitryon weideten, ein entsetzlicher Löwe hause. Der junge Held war, nach den Worten, die er soeben gehört, bald entschlossen. Er stieg bewaffnet hinauf ins wilde Waldgebirge, bezwang den Löwen, warf seine Haut um sich und setzte den Rachen als Helm auf.
Während er von dieser Jagd heimkehrte, begegneten ihm Herolde des Minyerköniges Erginos, welche einen schimpflichen und ungerechten Jahrestribut von den Thebanern in Empfang nehmen sollten. Herakles, der sich von der Tugend zum Anwalt aller Unterdrückten geweiht fühlte, ward mit den Boten, die sich allerhand Mißhandlungen des Landes erlaubt hatten, bald fertig und schickte sie, mit Stricken um den Nacken, verstümmelt ihrem Könige zurück. Erginos verlangte die Auslieferung des Täters, und Kreon, der König der Thebaner, aus Furcht vor der drohenden Gewalt, war geneigt, seinen Willen zu tun. Da beredete Herakles eine Menge mutiger Jünglinge, mit ihm dem Feinde entgegenzugehen. Nun war aber in keinem Bürgerhause eine Waffe zu finden; denn die Minyer hatten die ganze Stadt entwaffnet, damit den Thebanern kein Gedanke an einen Aufstand kommen sollte. Da rief Athene den Herakles in ihren Tempel und rüstete ihn mit ihren eigenen Waffen aus, die Jünglinge aber griffen zu den in den Tempeln aufgehängten Waffenrüstungen, welche die Vorfahren erbeutet und den Göttern geweiht hatten. So ausgerüstet, zog der Held mit seiner kleinen Mannschaft den herannahenden Minyern bis zu einem Engpasse entgegen. Hier konnte dem Feind die Größe seiner Kriegsmacht nichts nützen: Erginos selbst fiel in der Schlacht, und fast sein ganzes Heer wurde aufgerieben. Aber in dem Gefechte war auch Amphitryon, des Herakles Stiefvater, der wacker mitgekämpft hatte, umgekommen. Herakles rückte nach der Schlacht schnell gegen Orchomenos, die Hauptstadt der Minyer, vor, drang zu den Toren ein, verbrannte die Königsburg und zerstörte die Stadt.
Ganz Griechenland bewunderte die außerordentliche Tat, und der Thebanerkönig Kreon, das Verdienst des Jünglings zu ehren, gab ihm seine Tochter Megara zur Ehe, die dem Helden drei Söhne gebar. Seine Mutter Alkmene aber vermählte sich zum zweiten Male mit dem Richter Rhadamanthys. Die Götter selbst beschenkten den siegreichen Halbgott: Hermes gab ihm ein Schwert, Apoll Pfeile, Hephaistos einen goldenen Köcher, Athene einen Waffenrock.
HERAKLES IM GIGANTENKAMPFE
Der Held fand bald eine Gelegenheit, den Göttern für so große Auszeichnungen einen glänzenden Dank abzustatten. Die Giganten, Riesen mit schrecklichen Gesichtern, langen Haaren und Bärten, geschuppten Drachenschwänzen statt der Füße, Ungeheuer, welche die Gaia oder Erde dem Uranos, dem Himmel, geboren, wurden von ihrer Mutter gegen Zeus, den neuen Weltbeherrscher, aufgewiegelt, weil dieser ihre ältern Söhne, die Titanen, in den Tartaros verstoßen hatte. Sie brachen aus dem Erebos (der Unterwelt) auf dem weiten Gefilde von Phlegra in Thessalien hervor. Aus Furcht vor ihrem Anblick erblaßten die Gestirne, und Phöbos drehte den Sonnenwagen um. „Gehet hin und rächet mich und die alten Götterkinder“, sprach die Mutter Erde. „An Prometheus frißt der Adler, an Tityos zehrt der Geier, Atlas muß den Himmel tragen, die Titanen liegen in Banden. Geht, rächt, rettet sie! Braucht meine eigenen Glieder, die Berge zu Stufen, zu Waffen! Ersteiget die gestirnten Burgen! Du, Typhoeus, reiß dem Gewaltherrscher Zepter und Blitz aus der Hand; Enkelados, du bemächtige dich des Meeres und verjage Poseidon! Rhötos soll dem Sonnengotte die Zügel entreißen, Porphyrion das Orakel zu Delphi erobern!“ Die Riesen jubelten bei diesen Worten auf, als hätten sie den Sieg schon errungen, als schleppten sie schon den Poseidon oder den Ares im Triumphe daher und zerrten den Apollo am herrlichen Lockenhaar; der eine nannte schon Aphrodite sein Weib, ein andrer wollte Artemis, ein dritter Athene freien. So zogen sie den thessalischen Bergen zu, um von dort aus den Himmel zu stürmen.
Indessen rief Iris, die Götterbotin, alle Himmlischen zusammen, alle Götter, die in Wasser und Flüssen wohnen; selbst die Manen aus der Unterwelt beschwor sie herauf; Persephone verließ ihr schattiges Reich, und ihr Gemahl, der König der Schweigenden, fuhr mit seinen lichtscheuen Rossen zum strahlenden Olymp empor. Wie in einer belagerten Stadt die Bewohner von allen Seiten zusammenlaufen, ihre Burg zu schirmen, so kamen die vielgestalteten Gottheiten am Vaterherde zusammen. „Versammelte Götter“, redete sie Zeus an, „ihr sehet, wie die Mutter Erde mit einer neuen Brut sich gegen uns verschworen hat. Auf, und sendet ihr so viele Leichen hinunter, als sie uns Söhne heraufschickt!“ Als der Göttervater geendet, ertönte die Wetterposaune vom Himmel, und Gaia drunten antwortete mit einem donnernden Erdbeben. Die Natur geriet in Verwirrung wie bei der ersten Schöpfung; denn die Giganten rissen einen Berg nach dem andern aus seinen Wurzeln, schleppten den Ossa, den Pelion, den Öta, den Athos herbei, brachen den Rhodope mit der Hälfte des Hebrosquelles ab, und auf dieser Leiter von Gebirgen zum Göttersitz emporgeklommen, fingen sie an, mit Feuerbränden von Eichen und ungeheuren Felsenstücken den Olymp zu stürmen.
Nun war den Göttern ein Orakelspruch erteilt worden, daß von den Himmlischen keiner der Giganten vernichtet werden könnte und diese nur dann sterben würden, wenn ein Sterblicher mitkämpfte. Gaia hatte dies in Erfahrung gebracht und suchte deswegen nach einem Arzneimittel, das ihre Söhne auch Sterblichen gegenüber unverletzlich mache. Und es war wirklich ein solches Kraut gewachsen; aber Zeus kam ihr zuvor; er verbot der Morgenröte, dem Mond und der Sonne zu scheinen, und während Gaia in der Finsternis herumsuchte, schnitt er die Arzneikräuter eilig selbst ab und ließ seinen Sohn Herakles durch Athene zur Teilnahme am Kampfe auffordere.
Auf dem Olymp war inzwischen der Streit schon entbrannt. Ares hatte seinen Kriegswagen mit den wiehernden Rossen mitten in die dichteste Schar der heranstürzenden Feinde gelenkt. Sein goldner Schild brannte heller als Feuer, schimmernd flatterte die Mähne seines Helmes. Im Kampfgetümmel durchbohrte er den Giganten Peloros, dessen Füße zwei lebendige Schlangen waren. Dann fuhr er über die sich krümmenden Glieder des Gefallenen zermalmend mit seinem Wagen hin; aber erst bei des sterblichen Herakles Anblick, der eben die letzte Stufe des Olymps erstiegen hatte, hauchte das Ungeheuer seine drei Seelen aus. Herakles sah sich auf dem Schlachtfelde um und erkor sich ein Ziel seines Bogens; sein Pfeilschuß streckte den Alkyoneus nieder, der alsbald in die Tiefe stürzte, aber sobald er seinen Heimatboden berührt hatte, mit erneuter Lebenskraft sich wieder erhob. Auf den Rat der Athene stieg auch Herakles hinab und schleppte ihn über die Grenze seines Geburtslandes hinaus; und sowie der Riese auf fremder Erde angekommen war, entfuhr ihm der Atem.
Jetzt ging der Gigant Porphyrion in drohender Stellung auf Herakles und Hera zugleich los, um einzeln mit ihnen zu kämpfen. Aber Zeus flößte ihm schnell ein Verlangen ein, das himmlische Antlitz der Göttin zu schauen, und während er an Heras umhüllendem Schleier zerrte, traf ihn Zeus mit dem Donner, und Herakles tötete ihn vollends mit einem Pfeile. Bald rannte aus der Schlachtreihe der Giganten Ephialtes mit funkelnden Riesenaugen hervor. „Das sind helle Zielscheiben für unsere Pfeile!“ sprach lachend Herakles zu dem neben ihm kämpfenden Phöbos Apollo, und nun schoß ihm der Gott das linke und der Halbgott das rechte Auge aus dem Kopf. Den Eurytos schlug Dionysos (Bakchos) mit seinem Thyrsosstabe nieder; ein Hagel glühender Eisenschlacken aus des Hephaistos Hand warf den Klytios zu Boden; auf den fliehenden Enkelados schleuderte Pallas Athene die Insel Sizilien; der Riese Polybotes, von Poseidon über das Meer verfolgt, flüchtete sich nach Kos, aber der Meergott riß ein Stück dieser Insel ab und bedeckte ihn damit. Hermes, den Helm des Pluton auf dem Kopfe, erschlug den Hippolytos, zwei andere trafen der Parzen eherne Keulen. Die übrigen schmetterte Zeus mit seinem Donner nieder, und Herakles erschoß sie mit seinen Pfeilen.
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