„Wann war das ungefähr?“
„Hm, ich glaube, das war Mitte der Achtziger. Ja, ich erinnere mich, Silvester 86/87 lag sie besoffen in dem Brunnen, unten im Hof. Und Arne versuchte, sie ganz allein da raus zu heben. Er hat furchtbar geweint, das weiß ich noch genau. Ganz verzweifelt war er. Mein Mann hat ihm dann geholfen, seine Mutter ins Bett zu tragen. Das war schrecklich für den Jungen.“ Alma Andersen schüttelte seufzend den Kopf, dann sprach sie weiter.
„Wir haben dann das Jugendamt informiert. Kurz darauf sind die beiden ausgezogen. Ich hab nie wieder von ihnen gehört.“
Als Nina ins Büro stürmte, saß Erik noch am Computer.
„Hi! Wir haben die Identität der Toten festgestellt“, informierte er sie. „Sie heißt Maria Schulte, ist 42, geschieden und Verkäuferin in einem Supermarkt. Ihre Kollegin hat sie als vermisst gemeldet, weil sie gestern und heute nicht zur Arbeit gekommen ist und auch nicht zu erreichen war.“
Nina hörte kaum hin. „Gib Silvia Körner ein“, rief sie aufgeregt. „Ich glaube, dass sie die Mutter des Mörders ist.“
Eriks Finger flogen über die Tasten. Kurz darauf grinste er zufrieden.
„Volltreffer! Sie war auch in der Schloss- und in der Norderstraße gemeldet.“
„Noch irgendwo?“ Nina trat ungeduldig näher und sah über Eriks Schulter. „Wo lebt sie jetzt?“
„Moment.“ Er drückte ein paar Tasten. „Sie ist 2002 verstorben. Ihr letzter Wohnsitz war die Norderstraße.“
Nina überlegte. „Und davor lebte sie im Burghof, und vorher in der Schlossstraße?“
Er prüfte es nach. „Ja, stimmt.“
„Okay. Wo wohnte sie, bevor sie in die Schlossstraße zog?“
„Worauf willst du hinaus?“
Nina setzte sich und verschränkte die Hände. „Die Morde geschehen offenbar in umgekehrter Reihenfolge. An Silvia Körners letztem Wohnsitz – Norderstraße – wurde die erste Leiche gefunden. Die zweite habt ihr in der Nähe ihrer vorletzten Wohnung gefunden, im Burghof. Davor wohnte sie in der Schlossstraße, wo heute Maria Schulte tot aufgefunden wurde.“
„Du meinst also, wenn es vor dieser noch eine Adresse gab, könnte ein weiterer Mord geschehen und die Leiche dann dort abgelegt werden?“
„Davon müssen wir ausgehen. Also, gibt es noch eine Adresse?“
Erik schaute nach. „Von 1976 bis 1982 lebte sie im Oluf-Samsons-Gang.“
„Das ist doch die so genannte ‚Liebesgasse‘, oder?“
Er nickte. „Und zu der Zeit herrschte dort noch Hochbetrieb.“
„Mit anderen Worten, Silvia Körner hat vermutlich als Prostituierte gearbeitet“, folgerte Nina.
„Ist anzunehmen.“
„1987 war Arne Körner etwa zehn Jahre alt, also war er zu der Zeit, als seine Mutter in der Liebesgasse aktiv war, schon geboren.“
„Das klingt in der Tat nicht nach einer Bilderbuchkindheit. Fast kann er einem leid tun.“
„Mir tut nur die arme Frau leid, die womöglich bald tot im Oluf-Samsons-Gang liegt“, sagte Nina düster. „Wir müssen Arne Körner finden.“
Sie studierten die Klingelschilder eines Hauses in der Waldstraße.
„Hier steht nirgendwo Körner“, sagte Nina ratlos und drückte die unterste Taste. Es summte und Erik stieß die Tür auf.
Eine korpulente Frau mit grauen Strähnen stand in der Wohnungstür und trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. „Ja, bitte?“
„Kripo Flensburg, wir suchen Arne Körner.“
„Der wohnt hier nicht mehr, seit mindestens einem Vierteljahr.“
„Großartig“, murmelte Erik.
„Ich bin froh, dass er wech ist.“ Die Frau schnaubte. „Ich konnte den Kerl nich ausstehen. Der hat ja kaum die Kiemen auseinander gekriegt, kein Moin und kein Tschüs, nix. Überhaupt war er 'n büschen merkwürdig. Gearbeitet hat er, glaub ich, nich. Saß immer allein zu Hause. Meistens bei zugezogenen Gardinen. Hat er was angestellt?“
„Vielen Dank, Sie haben uns sehr geholfen“, sagte Nina höflich. „Tschüs!“
Erik hielt ihr bereits die Haustür auf.
Im Wagen schwiegen sie nachdenklich vor sich hin, bis Ninas Handy klingelte. Sie zog es aus der Jackentasche, sah aufs Display und nahm den Anruf an.
„Was willst du?“, fragte sie kalt.
Erik hörte undeutlich eine männliche Stimme mit unverkennbarem Akzent.
„Von mir aus“, knurrte Nina. „Aber es muss ein besonders teures Restaurant sein. Ciao.“
Sie legte auf. „Heute Abend bin ich zum Essen verabredet“, berichtete sie zufrieden.
„Ist dein Paolo vom Macho zum Softie mutiert?“
„Sieht zumindest so aus.“
„Ich habe nachgedacht“, sagte Erik. „Heute ist der 17. November. Die ersten beiden Leichen wurden zu Ostern und am Neujahrsmorgen gefunden. Vielleicht hat der Mörder sich neben den Orten auch diese Daten bewusst ausgesucht. Ich meine, immerhin hat er seine Mutter am Neujahrsmorgen 1987 aus dem Brunnen im Burghof gefischt. Vielleicht finden wir unter diesem Gesichtspunkt heraus, wann sich ein eventueller nächster Mord ereignen könnte.“
Ein Blick in den Computer gab Erik Recht. Arne Körner war am 16. November 1977 geboren worden, was bedeutete, dass er Maria Schulte, die Tote aus der Schlossstaße, an seinem Geburtstag ermordet hatte.
„Aber hilft uns das weiter?“, zweifelte Nina. „Wann könnte er wieder zuschlagen?“
Sie überlegten. „Natürlich!“, Erik schlug sich an die Stirn. „Vermutlich hat seine Mutter ihn zu Ostern enttäuscht, Silvester ebenso und an seinem Geburtstag. Welchen Feiertag hat sie ihm wahrscheinlich auch versaut?“
Sie sprachen es gleichzeitig aus. „Weihnachten!“
Die Adventszeit brach an. In der Flensburger Innenstadt wurden Punschbuden und Wurststände aufgebaut, Lichterketten funkelten in der Dämmerung und praktisch alles, von der Bratpfanne bis zur Spielkonsole, verwandelte sich in Weihnachtsgeschenke.
Arne Körner blieb verschwunden. Sie hatten ein Foto aus der Datenbank, das einen fülligen Mann mit kurzen blonden Haaren zeigte, doch auch auf eine öffentliche Fahndung hin geschah nichts, was ihnen weiterhalf. Es war wie verhext.
„In drei Tagen ist Heiligabend“, seufzte Nina. „Wir glauben, dass er dann wieder zuschlagen wird. Nur leider wissen wir nicht, wo.“
„Uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als den Weihnachtsabend im Oluf-Samsons-Gang zu verbringen“, murmelte Erik. „Tolle Aussichten.“
„Jep. Paolo wird begeistert sein.“
Der Oluf-Samsons-Gang war klein und schmal, genau wie die Häuser. Einige waren mittlerweile saniert und mit modernen Wohnungen ausgestattet worden, andere sahen geduldig ihrem Verfall entgegen. Die abschüssige Gasse führte von der Norderstraße hinunter zum Hafen. Am unteren Ende sah man das Wasser der Förde, bei Tageslicht und Sonnenschein ein malerischer Anblick. An diesem nasskalten Abend jedoch sah man nur das feucht glänzende Kopfsteinpflaster im Licht der Straßenlampen.
Nina, Erik und sechs weitere Beamte hatten sich in Erdgeschosswohnungen postiert, deren Bewohner zum größten Teil verärgert waren, dass ausgerechnet am Heiligen Abend die Polizei ihre Wohnungen besetzte. Einige wenige fanden die Aktion jedoch spannend und aufregend. So wie der sympathische junge Mann, in dessen Wohnung Nina und Erik unauffällig aus dem Fenster spähten. Er bot ihnen Kaffee und Stollen an und war offenbar froh, an diesem Abend doch nicht ganz allein zu sein. Unverhohlen flirtete er mit Erik.
Nina sah grinsend aus dem Fenster, während die zwei sich angeregt unterhielten.
Um halb eins setzte leichter Schneefall ein, doch die Flocken schmolzen sofort auf den Pflastersteinen. Nina unterdrückte ein Gähnen und wünschte sich nach Hause.
„Vielleicht liegen wir doch falsch“, sagte sie gegen zwei Uhr morgens. „Ich glaube, er kommt gar nicht.“
„Er kommt“, behauptete Erik mit angespannter Stimme. „Ich spüre es.“
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