„Wir müssen diesen seltsamen ROM für uns gewinnen“, sagte Marc rasch und eifrig.
„Wenn das nur so einfach wäre! Er zeigt sich keinen Zweibeinern, und wenn er neben dir stünde, so würdest du ihn nicht bemerken."
„Dann ist dieser ROM also eiskalt und gefühllos?"
„Still! Sage so etwas nie wieder“, Akandra war erschrocken.
„Aber mein Urteil ist doch nicht falsch, wenn er all dem Leid auf der Welt zusieht, obgleich er helfen könnte! Wenn er uns hier in diesem Wald umkommen lässt! Wenn er zulässt, dass das ganze Heimland vernichtet wird!"
„ROM ist sicher nicht gefühllos. Er ist uns nur so fremd. Er ist mit nichts vergleichbar, was wir kennen. Mein Vater sagte immer: ROM ist der ganz Andere."
Da dröhnte der Wald von einem tiefen, durchdringenden Lachen. Das Lachen wechselte ständig seine Richtung. Mal kam es von rechts, dann wieder von links und dann wieder von einer anderen Seite. Die Erits drehten sich verwirrt und verschreckt um sich selbst und versuchten, die Quelle dieses Lachens zu entdecken. Aber es war nichts zu sehen außer Bäumen, Sträuchern und ein paar Fliegenpilzen. Endlich, es war ihnen schon ganz schwindlig, tippte ihnen jemand von hinten auf die Schulter. Sie fuhren beide gleichzeitig herum, und da stand vor ihnen ein Mensch, nicht groß aber sehr stämmig. Auf dem Kopf trug er einen Schmuck aus Federn, um die Schultern hatte er einen blauen Mantel gelegt, und seine Füße steckten in alten Stiefeln. Das Gesicht war umrahmt von einem langen, braunen Bart und zerknittert von hundert Lachfalten.
„Wer bist du?" stammelte Marc.
„Ich bin der, von dem ihr die ganze Zeit geredet habt“, lachte die Gestalt. „Es ist wirklich interessant, was ihr über mich zu sagen wisst."
Marc sich nicht mehr zurückhalten. Er platzte heraus: „Wenn du so mächtig bist, wie Akandra sagt, dann musst du uns helfen!"
„Euch helfen?" ROMs Stimme klang verwundert.
„Ja, das Heimland ist in Gefahr. Orokòr haben uns überfallen, und sie haben alle Erits in Waldmar bestialisch umgebracht. Und sogar den Hof von Bauer Sturm haben sie überfallen und alle getötet. Es muss sofort etwas geschehen, sonst sind alle Erits verloren."
„Ja“, sagte ROM ernst, „ich habe gesehen, was geschehen ist. Es war furchtbar. Ihr tut mir leid."
„Von deinem Mitleid haben wir nichts“, entgegnete Marc erbittert, „was wir brauchen, das ist Hilfe."
„Damit kann ich euch leider nicht dienen. Ich weiß nicht, wie ich euch helfen könnte. Doch nun lasst uns von etwas Anderem reden. Der Tag ist so schön, und das Laub der Bäume so grün."
ROM lachte wieder, und sein Lachen übertönte sogar das Zwitschern in den Ästen.
„Mein Gott, bist du gefühllos“, sagte Marc erbittert. „Aber so kommst du mir nicht davon. Eine alte Weisheit sagt, wer nicht hilft, obgleich er könnte, macht sich genauso schuldig wie der Täter."
ROM lachte noch immer. „Das ist nicht nett, was du mir sagst. Ich weiß wirklich nicht, was ich für euch tun könnte. Ihr überschätzt mich! Meine Macht ist begrenzt. Ich habe überhaupt keine Macht, um die Welt zu verändern. Auf der Erde geschieht nämlich nichts, was nicht geschehen soll. Selbst wenn ein Schmetterling stirbt, so gehört dies zum großen Plan. Wie könnte ich da so vermessen sein und eingreifen wollen?"
„ROM, der Fatalist und sein Wald“, warf Marc spöttisch ein. „Leider haben wir Erits keinen Wald, in dem wir uns verkriechen können."
„Weil ihr euren Wald verbraucht habt. Weil ihr jeden Wald, der euch auf Dauer schützen könnte, vernichtet. Weil ihr immer nur von dem augenblicklichen Nutzen ausgeht und nicht an die Zukunft denkt. Wenn dann die Not groß ist, lamentiert ihr und fordert von den Leuten, die sich ihren Wald bewahrt haben, Hilfe.
Nein, ich bin kein Fatalist. Aber ich verstehe mehr von dieser Welt als du, denn ich habe mehr gesehen und erlebt, als du dir vorstellen kannst. Du kannst mir glauben, ich war vor langer Zeit ebenso töricht wie du. Ich wollte die Welt verändern und gestalten. Aber ich habe bald eingesehen, dass dies eitle Versuche waren, weil der große Plan dennoch seinen Lauf nahm."
„Dass man etwas tut, statt nichts zu tun, das ist nicht Eitelkeit, heißt es in einem alten Gedicht. Sicher, wir sind dumm, wir sind sterblich, wir sind schwach. Aber wir tun wenigstens etwas gegen das Böse in der Welt, gegen die Gemeinheiten. Auch wenn es vergeblich ist, und wir in diesem Kampf immer verlieren werden. Doch unser fruchtloses Mühen ist auf jeden Fall besser als dein albernes Lachen. Ich kann deine Ausflüchte nicht mehr hören."
„Marc sei still! So kannst du nicht mit Meister ROM reden!" mischte sich Akandra ein. Und zu ROM gewandt: "Bitte nehmt es ihm nicht übel. Er weiß nicht was er sagt. Er meint es nicht so. Er ist nur sehr verzweifelt."
„Ich weiß genau, was ich sage." In Marcs Stimme lag Trotz.
ROM lachte noch immer. „Ich nehme es ihm nicht übel. Dein Freund gefällt mir. Es macht Spaß mit ihm zu streiten." Dann wandte er sich wieder an den jungen Erit. „Nehmen wir an, ich wäre so mächtig, wie du sagst. Wenn ich in das Geschehen dieser Erde eingriffe, wenn ich Streitereien schlichten, Kämpfe verhindern und schlimme Herrscher absetzen würde. Was glaubst du, würde sich ändern? Die Welt würde um keinen Deut besser. Mit einem einmaligen Eingreifen wäre es doch nicht getan. Ich müsste immer wieder aufs Neue, ja ich müsste täglich, stündlich meine Kraft anwenden und ordnen und schlichten. Da, wo ich es nicht täte, würde man mich verfluchen und mir die Schuld am Elend geben. Irgendwann würde ich ganz allein die ganze Welt lenken. Ich wäre der Herr der Welt. Wie könnte ich so größenwahnsinnig sein wollen! Im Übrigen wäre ich ein schlechter Herrscher, denn das Recht ist nur selten eindeutig auf einer Seite. Wenn zwei Parteien sich gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen und tyrannisieren, glaubt doch jede fest, im Recht zu sein und sich nur gegen die Gemeinheiten der anderen zu wehren. Wie könnte ich Schiedsrichter spielen und für eine Gruppe Partei ergreifen?"
„Deshalb lässt du also die Orokòr gewähren? Mit dieser fadenscheinigen Begründung siehst du dem Unheil ruhig zu?"
„Nein, ich sehe nicht ruhig zu, aber gelassen. ‚Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest', steht in einem alten Buch geschrieben. Doch nun haben wir genug disputiert. Es ist inzwischen Mittag geworden, und es wird Zeit, dass wir gemeinsam etwas essen."
Lachend und singend nahm er einen großen ledernen Beutel von der Schulter, setzte ihn auf den Boden und schnürte ihn auf. Dann packte er Köstlichkeiten aus, wie Ziegenkäse, Brot, Salz, Butter und Quark mit frischen Kräutern. Dies alles breitete er auf einer bunten, wollenen Decke aus und lud die jungen Leute zum Sitzen ein. Die bemerkten erst jetzt, wie hungrig sie waren. Beide hatten sie seit langem nichts mehr gegessen. Sie machten sich mit Appetit über all die guten Sachen her und auch ROM hielt kräftig mit.
Endlich waren sie gesättigt, lagen faul auf dem Rücken und blinzelten in die Sonne. Es war schön, wie sie dalagen, und es war friedlich, so friedlich wie auf Gutruh in den guten Zeiten.
Vor Marcs geistigem Auge tauchte ein anderes Bild auf. Gutruh verbrannt, geschunden und besudelt. Seine Mutter und sein Vater tot. Schwarze Horden zertrampeln triumphierend den sorgfältig gepflegten Garten.
Er sprang auf und rief: „Wir haben kein Recht, hier zu liegen. Inzwischen kann das Verderben schon in Heckendorf angelangt sein. Wir müssen weiter. Wirst du uns nun helfen, ROM?"
Auch Akandra war aufgestanden. Nur der Hüter des Waldes lag noch im Moos.
„Fängst du schon wieder an?" fragte er schläfrig. „Noch ist in Heckendorf nichts geschehen, und es ist dort noch ein paar Tage sicher. Ich habe dir schon gesagt, dass ich euch nicht helfen kann. Was glaubt ihr, wie viel Leid und Schmerz ich all die Jahrhunderte und Jahrtausende miterleben musste, ohne dass ich eingreifen oder etwas verhindern hätte können? Glaubt ihr, das ist spurlos an mir vorübergegangen? Ich habe keine Tränen mehr und ich habe gelernt alles neu zu sehen. Seit ich verstehe, kann ich damit leben. Und ich weiß, irgendwann werdet auch ihr verstehen. Doch in einem hast du recht, Marc, ihr müsst jetzt aufbrechen."
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